Die Invasion - 5
bringt, Charis anzugreifen, wird keinesfalls so tun können, als habe er nicht schon lange vorher gewusst, wie Charis auf einen solchen Angriff reagieren wird. Und nur für den Fall, dass dies jemandem entgangen sein sollte: Ich denke, alle dürften mich spätestens jetzt, nach meiner Botschaft an König Zhames, verstanden haben.
Zudem gefällt mir die Aussicht, Politiker wie Clyntahn und Trynair könnten glauben, sie hätten es nur mit der Arroganz eines jungen Mannes zu tun. Vor langer Zeit hat mir mein Vater einmal erzählt, es sei wunderbar und ein wahrer Segen, wenn man von seinen Freunden geliebt werde, aber es sei absolut unerlässlich, von seinen Feinden gefürchtet zu werden. Und das Nächstwichtigste, unmittelbar nach der Furcht, sei, dass der Feind einen unterschätze. Es ist natürlich besser, niemals angegriffen zu werden. Aber im Falle eines Angriffs hat der Angegriffene es umso leichter, je selbstsicherer der Feind ist.«
Mehrere Sekunden lang blickte Nahrmahn den jungen Mann an, der so unerwartet zu seinem Kaiser geworden war. Dann neigte er in einer Geste des Respekts das Haupt.
»Von Tag zu Tag fühle ich mich wohler bei dem Gedanken, den Kampf gegen Euch und Euren Herrn Vater verloren zu haben, Euer Majestät.«
»Tatsächlich? Weil ich so ein prächtiger, liebenswerter Bursche bin?«
»Nein, eigentlich nicht«, gab Nahrmahn trocken zurück, und Cayleb stieß ein belustigtes Schnauben aus. Dann sprach der Emeraldianer weiter. »Ich habe einen wirklich guten Grund dafür, mich nicht schlecht dabei zu fühlen: Ich habe gegen jemanden verloren, der es durch reinen Zufall geschafft hat, mir mit so viel Schwung in meinen wohl gepolsterten Hintern zu treten, dass er mir jetzt fast zwischen den Ohren sitzt!«
Hoch stand die sengend heiße Sonne am Himmel, als die Kaiserin von Charis vor dem Hafendamm von Carmyn beidrehte.
Für jemanden, der in Tellesberg aufgewachsen ist, sieht die Hauptstadt von Zebediah ja nicht gerade sonderlich beeindruckend aus, dachte Cayleb. Aber er musste zugeben, dass der Ankerplatz selbst wirklich erlesen war. Der Talisman-Golf in seiner gesamten Länge und die Hannah Bay - ganz zu schweigen von den Landmassen von Grass Island und Shoal Island - schützten auf Reede liegende Schiffe ausgezeichnet vor der Gewalt der Elemente. In diesen Breitengraden war das alles andere als unwichtig, vor allem nicht während der Orkansaison. Dazu kam, dass der Hafen sich gut erreichen ließ: Das Wasser war tief, und es gab nur wenige Gefahren, die es zu umschiffen galt, bevor man schließlich der Stadt selbst erfreulich nahe kam.
Natürlich gab es hier, kaum fünfzig Meilen vom Äquator entfernt, ein Klima, bei dem selbst Charisianer sich in der Sonne fühlten, als würden sie gerade über dem offenen Feuer gebraten.
Das Ufer des Hafens wurde von Geschützbatterien recht ordentlich geschützt. Allerdings hatte Großherzog Zebediah die Festungen sträflich vernachlässigt, die strategisch günstig auf den Inseln vor der Zufahrt zu seiner Hauptstadt lagen. Es gab mehrere Stellen, an denen die Batterien eine anrückende Flotte zumindest ernstlich behindert hätten, doch dort waren keine Geschütze aufgestellt.
Und das hat vielleicht gar nichts mit Zebediahs Nachlässigkeit zu tun, wenn ich es mir jetzt so recht überlege, sinnierte Cayleb. Schließlich kennt Hektor den Großherzog sogar noch besser, als Nahrmahn das tut. Wahrscheinlich hat er genau darauf geachtet, dass seine Flotte sich nicht an diesen Batterien vorbeikämpfen müsste, sollte es zu etwaigen Unstimmigkeiten kommen. Und es ist vielleicht nicht schlecht, wenn auch ich das nicht vergesse.
Um die Kaiserin von Chans herum gruppierten sich die anderen zehn Galeonen, die Cayleb mitgebracht hatte. Deren Geschütze waren ausgefahren und bemannt. Vielleicht war das ja nicht die diplomatischste aller erdenklichen Vorgehensweisen. Aber eigentlich war das Cayleb herzlich egal. Die Geschütze seines Flaggschiffs waren nicht bemannt - und das war auch das Äußerste, was Cayleb Zebediah im Hinblick auf allgemeine diplomatische Gepflogenheiten zuzugestehen bereit war.
Cayleb schaute zu, wie eine Schaluppe mit geradezu üppig vergoldetem Schnitzwerk das Hafenbecken durchquerte und auf die Kaiserin von Charis zuhielt. Er warf einen Blick zu Merlin hinüber, der eben jene Schaluppe durch ein Fernglas betrachtete. Der Kaiser verkniff sich ein Lächeln. Er hätte jede Wette gehalten, dass Merlin in Wahrheit die Augen geschlossen hatte.
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