Die irische Signora
Büchersammlung standen. Hier saß ihre ältere Schwester Fran jeden Abend bei ihr, bis sie die Hausaufgaben erledigt hatte. Ein Gasofen mit tragbaren Gasflaschen, die Fran zum Vorzugspreis im Supermarkt kaufte, sorgte im Winter für Wärme.
Kathys Eltern lachten über diesen Luxus – die anderen Kinder hatten ihre Hausaufgaben am Küchentisch gemacht, und daran gab es nichts auszusetzen, oder? Allerdings, hatte Fran erwidert. Mit fünfzehn habe sie ohne Abschluß die Schule verlassen, es habe sie Jahre gekostet, sich in eine leitende Position hinaufzuarbeiten, und sie habe immer noch enorme Bildungslücken. Auch die Jungs kamen nur gerade eben so über die Runden, zwei arbeiteten in England, und einer war Roadie bei einer Popgruppe. Offenbar fühlte sich Fran verpflichtet, dafür zu sorgen, daß Kathy es weiter brachte als der Rest der Familie.
Manchmal fürchtete Kathy, sie könne Frans Erwartungen nicht gerecht werden. »Weißt du, ich bin leider gar nicht besonders gescheit, Fran. Ich tue mich nicht so leicht wie viele andere in der Klasse. Harriet zum Beispiel, die kapiert immer alles auf Anhieb.«
»Na, ihr Vater ist schließlich Lehrer, da ist das kein Wunder«, erwiderte Fran naserümpfend.
»Ja, das meine ich ja gerade. Du bist so gut zu mir, Fran. Anstatt tanzen zu gehen, nimmst du dir die Zeit und fragst mich ab. Und ich habe solche Angst, bei den Prüfungen durchzufallen und dich zu enttäuschen, nachdem du dir mit mir so große Mühe gegeben hast.«
»Ich will aber nicht zum Tanzen gehen«, erwiderte Fran seufzend.
»Aber du bist doch noch nicht zu alt für die Disco?« Kathy, das Nesthäkchen der Familie, war sechzehn, Fran war zweiunddreißig und die Älteste. Eigentlich sollte sie inzwischen verheiratet sein und eine eigene Wohnung haben wie all ihre Freundinnen. Trotzdem wünschte sich Kathy, daß Fran niemals auszog. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es zu Hause ohne Fran wäre. Ihre Mam fuhr oft in die Stadt, um »Besorgungen zu machen«, wie sie es nannte. In Wirklichkeit saß sie dann vor Glücksspielautomaten.
In ihrem Heim hätte es nur wenige Annehmlichkeiten gegeben, wenn Fran nicht dafür gesorgt hätte. Orangensaft zum Frühstück, abends eine warme Mahlzeit. Tatsächlich hatte Fran ihrer Schwester die Schuluniform gekauft und ihr beigebracht, immer die Schuhe zu putzen und jeden Abend Bluse und Unterwäsche zu waschen. Von ihrer Mutter hätte Kathy das nicht gelernt.
Fran klärte sie auch auf und besorgte ihr die erste Packung Tampons. Mit dem Sex, riet Fran, solle sie lieber warten, bis sie jemanden gefunden habe, den sie wirklich sehr gern hatte, anstatt sich mit irgendeinem x-beliebigen einzulassen, nur weil das allgemein erwartet wurde.
»Hast du schon mal jemanden sehr gern gehabt und mit ihm geschlafen?« hatte die damals vierzehnjährige Kathy neugierig gefragt.
Und Fran war ihr auch darauf die Antwort nicht schuldig geblieben. »Ich fand es immer das beste, nicht darüber zu sprechen. Weißt du, es ist etwas Wunderbares, was man nur zerreden würde«, hatte sie entgegnet, und damit war das Thema erledigt.
Fran nahm sie ins Theater mit, zu Aufführungen ins Abbey Thea- tre, ins Gate und ins Project Arts Centre. Sie schlenderte mit ihr die Grafton Street entlang, und sie gingen auch zusammen in die eleganten Geschäfte. »Wir müssen lernen, in allen Lebenslagen selbstsicher aufzutreten«, erklärte Fran. »Das ist das ganze Geheimnis. Wir dürfen nicht unterwürfig und unsicher wirken, als hätten wir hier nichts zu suchen.«
Über ihre Eltern äußerte Fran niemals ein Wort der Kritik. Manchmal beschwerte sich Kathy: »Mam weiß deine Großzügigkeit gar nicht zu schätzen, Fran. Da hast du ihr diesen schönen neuen Herd gekauft, aber sie kocht nie darauf.«
»Ach, sie ist schon in Ordnung«, erwiderte Fran dann nur.
»Dad bedankt sich nie, wenn du ihm aus dem Supermarkt Bier mitbringst. Er schenkt dir nie etwas.«
»Dad ist kein übler Kerl«, meinte Fran beschwichtigend. »Es ist nun mal kein schönes Leben, wenn man den ganzen Tag zwischen Rohrleitungen und Siphons herumhantieren muß.«
»Glaubst du, du wirst mal heiraten?« fragte Kathy sie eines Tages neugierig.
»Ich warte ab, bis du erwachsen bist. Vorher zerbreche ich mir nicht den Kopf darüber«, erwiderte Fran lachend.
»Aber wirst du dann nicht zu alt sein?«
»Keineswegs. Wenn du zwanzig bist, bin ich gerade mal sechsunddreißig, in der Blüte meines Lebens«, versicherte Fran ihrer
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