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Die irische Signora

Die irische Signora

Titel: Die irische Signora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maeve Binchy
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meinte Tony O’Brien, der künftige Direktor, resigniert. »Man kann ja kaum von ihnen erwarten, daß sie einem vorschwärmen, wie geistig stimulierend sie das Lernen um des Lernens willen finden.«
    »Kathy hat eine ältere Schwester, die auch manchmal kommt«, fiel einer anderen Lehrerin ein. »Sie ist Filialleiterin in einem Supermarkt, und ich glaube, sie ist der einzige Mensch, der die arme Kathy wirklich versteht.«
    »Ach Gott, wenn es unsere einzige Sorge wäre, daß die Kinder zu hart und zu verbissen arbeiten!« seufzte Tony O’Brien. Als angehender Direktor hatte er in seinem Büro tagtäglich mit weitaus größeren Problemen zu kämpfen. Und nicht nur in seinem Büro.
    In seinem ziemlich unsteten Liebesleben hatte es nur wenige Frauen gegeben, mit denen er zusammenbleiben wollte, und jetzt, da es endlich soweit war und er die Richtige kennengelernt hatte, wurde die Sache plötzlich so verdammt kompliziert. Das Mädchen war die Tochter von Aidan Dunne, dem armen Kerl, der geglaubt hatte, er würde zum Direktor ernannt werden. Die daraus entstehenden Mißverständnisse und Verwicklungen hätten einem viktorianischen Melodram zur Ehre gereicht.
    Nun wollte ihn die junge Grania Dunne nicht mehr sehen, weil sie ihm vorwarf, er habe ihren Vater gedemütigt. Das war zwar falsch und an den Haaren herbeigezogen, aber das Mädchen glaubte es. Er hatte ihr die Entscheidung überlassen und zum erstenmal in seinem Leben versichert, er werde sich mit keiner anderen einlassen, sondern darauf warten, daß sie zu ihm zurückkehrte. Ab und zu ließ er ihr ein Lebenszeichen in Form einer witzigen Postkarte zukommen, erhielt jedoch nie eine Antwort. Vielleicht war es töricht, sich weiterhin Hoffnungen zu machen. Schließlich gab es noch eine Menge anderer Frauen auf der Welt, und bislang hatte es ihm nie daran gemangelt.
    Aber irgendwie hatte keine eine solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt wie dieses muntere, aufgeweckte Mädchen mit den lebhaften Augen, der bemerkenswerten Energie und der raschen Auffassungsgabe. In ihrer Gegenwart fühlte sich Tony O’Brien tatsächlich um Jahre jünger. Und sie war keineswegs der Meinung gewesen, er sei zu alt für sie, nicht in jener Nacht, die sie bei ihm verbracht hatte. In der Nacht, bevor er erfuhr, wer sie war und daß ihr Vater auf einen Posten spekulierte, der für ihn gar nicht in Frage kam.
    Womit Tony O’Brien am allerwenigsten gerechnet hatte, war, daß er als Direktor des Mountainview College beinahe wie ein Mönch leben würde. Aber es schadete ihm nichts, früh zu Bett zu gehen, weniger zu trinken und sich seltener ins Nachtleben zu stürzen. Ja, er versuchte sogar, das Rauchen einzuschränken, für den Fall, daß Grania zu ihm zurückkehrte. Immerhin rauchte er jetzt morgens nicht mehr. Während er früher mit noch geschlossenen Augen nach dem Päckchen neben dem Bett getastet hatte, schaffte er es nun, bis zur Schulpause zu warten; erst dann genehmigte er sich in der Abgeschiedenheit seines Büros bei einem Kaffee die erste Zigarette. Das war schon ein Erfolg. Er überlegte, ob er Grania eine Karte mit dem Bild einer Zigarette und der Aufschrift »Habe ein Laster weniger« schicken sollte, aber dann würde sie womöglich denken, er habe das Rauchen völlig aufgegeben, was nun ganz und gar nicht stimmte. Es war verrückt, wie häufig er an sie denken mußte.
    Ihm war nie bewußt gewesen, wieviel Arbeit es bedeutete, eine Schule wie das Mountainview College zu leiten. Die Elternabende und der Tag der Offenen Tür waren nur zwei der vielen Aufgaben, die ihn bereits vollauf in Anspruch nahmen.
    Es blieb ihm wirklich kaum Zeit, sich über Mädchen wie Kathy Clarke Gedanken zu machen. Sie würde von der Schule abgehen und irgendeinen Job finden; vielleicht brachte ihre Schwester sie im Supermarkt unter. Bis zur Hochschulreife würde sie es nicht schaffen. Dafür besaß sie weder den familiären Hintergrund noch die Intelligenz. Aber sie würde sich schon durchschlagen.
     
    Keiner der Lehrer wußte, wie es bei Kathy Clarke zu Hause aussah. Wenn sie überhaupt je einen Gedanken daran verschwendeten, stellten sie sich wahrscheinlich vor, sie lebe in einem der Häuser in der großen, ständig wachsenden Wohnsiedlung, wo es zuviel Fernsehen und zuviel Fastfood-Essen gab, zuwenig Ruhe und Frieden, zu viele Kinder und zuwenig Geld für den Lebensunterhalt. Das war hier normal. Sie konnten nicht wissen, daß in Kathys Zimmer ein Einbauschreibtisch und eine kleine

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