Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Blaskapelle. Mireille versuchte sich alle Seltsamkeiten genau einzuprägen: die gemalten Filmplakate von Can Pistoles, die Schreie der Schuhputzer – »¡Limpia!« –, vermischt mit der malerischen Empörung des »Rambla-Sheriffs«, der um diese Tageszeit schon heillos betrunken war; die Zeitungsbuden, die Vögel, die in ihren Käfigen krakeelten, die Blumenverkäufer … Sie machten beim Café Moka halt, um ein Bier auf das Andenken der Revolutionäre zu trinken, denn Mireille hatte kurz zuvor Orwells Hommage an Katalonien gelesen. Sie schlenderten Hand in Hand, und zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Gabriel eine innere Ruhe. Zudem hatte er in Begleitung seiner französischen Braut das Gefühl, dass ihm diese Stadt doch nicht ganz gleichgültig war. Es gefiel ihm, zu zeigen, wie gut er sich auskannte. Als sie am Ende der Rambla ankamen, bogen sie in den Carrer dels Escudellers ab und gingen bei Los Caracoles essen. Vor der Tür des Restaurants bewunderte Mireille das Arrangement der Brathähnchen, die sich im Außenofen drehten, und machte eine Geste des Händewärmens. Ein sehr freundlicher Kellner mit schimmerndem Haar und fleckiger Schürze, der sie beide für französische Touristen hielt (und Gabriel beließ ihn in dem Glauben), lud Mireille ein, sich das Hähnchen auszusuchen, das ihr am besten gefiel. Dann markierte er es mit einem glühenden Eisen an einem Bein, damit sie es wiedererkennen würden, wenn es auf den Tisch käme.
Am Donnerstag und am Freitag – Heiligabend – hatte La Ibérica geschlossen. Es waren Bilanztage in den Firmen, Zeit für den Jahresabschluss, da setzte niemand einen Umzug an. Mireille und Gabriel teilten sich die Sonnenstunden zwischen Falkenzimmer und Stadtspaziergängen auf. Mireilles Erinnerungen an das, was sie an diesen beiden Tagen sah, sind verschwommen; sie war danach nie wieder in Barcelona. Sie sagt, sie seien in einer Markthalle gewesen, aber sie weiß nicht, ob es die Boqueria oder die von Sant Antoni war. Sie seien auf einen Berg gestiegen (Montjüic? Der Parc Güell?), hätten an einem Platz mit Palmen in einer Bar einen Wermut getrunken (im Glaciar? Im Ambos Mundos?), und anschließend – daran erinnert sie sich gut – gingen sie in den Zoo, wo Gabriel ihr einen weißen Gorilla zeigte, niedlich wie ein riesiges Plüschtier. Außerdem weiß sie noch, dass er sie auf einen Weihnachtsmarkt führte und dass sie dort, wohl aus Schuldgefühl, Geschenke für Christophe kauften.
Den Donnerstagnachmittag nutzten sie, um einen Auftrag auszuführen. Monate zuvor hatte Justine, Mireilles beste Freundin, an der Universität einen jungen Mann aus Barcelona kennengelernt. Er verbrachte ein Auslandsjahr in Paris, war aufgeweckt, langhaarig, ein begieriger Lukács- und Strukturalisten-Leser, sehr dialektisch, und er schwankte, ob er Kino machen oder Literaturwissenschaftler werden sollte. Justine hatte ihn bei Debattentagen zu den Divergenzen zwischen Marxismus und Maoismus getroffen. Da hatte er, wenig systematisch und etwas großmäulig, einer Ansicht widersprochen, die sie mit voller Überzeugung verfocht. Beim Hinausgehen hatte sie ihm einen Gedanken noch genauer erörtern wollen, also führten sie die Diskussion in einer Kneipe weiter. Und spät in der Nacht, weil einfach keine Einigung möglich war, verlegten sie ihren Austausch auf das Gebiet dessen, was sie die Praxis nannten, also ins Bett, in dem Zimmer, in dem er zur Miete wohnte. Zwei Tage später musste der Bursche in Familienangelegenheiten überstürzt abreisen, und Justine brannte darauf, zu erfahren, was mit ihm geschehen war. Also hatte sie Mireille, als Gegenleistung dafür, dass sie Christophe über Weihnachten hütete, gebeten, dem Dilettanten aus Barcelona ein paar Bücher zu bringen und ein wenig herumzuschnüffeln. Noch heute, dreißig Jahre danach, gerät Mireille außer sich, wenn sie davon erzählt.
»Justine schrieb mir die Adresse auf einen Zettel. Der Typ hatte ihr gesagt, wenn sie mal nach Barcelona käme, würde sie ihn immer abends vor dem Essen in dieser Bar finden.«
Wir Christofs haben unsere Nachforschungen angestellt: Die Bar hieß Bocaccio.
»Gabriel erinnerte sich, den Namen mal in der Zeitung gelesen zu haben, in den Gesellschaftsnachrichten. Das lag in der ganz feinen Gegend, weit weg von der normalen Welt, und er konnte sich nicht vorstellen, dass sich dort Studenten trafen. Als wir dann reingingen und von allen Seiten angeglotzt wurden, wussten wir Bescheid: ein Laden für
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