Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Schnösel, für Papasöhnchen! Manche waren vielleicht selbst schon Eltern von Papasöhnchen. In Paris gab es die auch, die ewigen Jugendlichen aus gutem Haus, die Gegenkultur spielten, aber, wenn die Stunde der Wahrheit schlug, in der Kirche heirateten. Die Brut der Herrscher von Barcelona verteilte sich über eine lange Theke und einige Sofas aus rotem Samt. Von Weitem sahen alle gleich aus, alle wie George Peppard und Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany. Wir fragten einen Kellner nach Justines Freund. Mit einem Kopfnicken verwies er uns in eine Ecke des Raums, und da saß er inmitten einer Gruppe und dominierte das Gespräch. Sie alle, aber Justines Freund besonders, strahlten einen natürlichen, wohl unbewussten Optimismus aus. Für sie war es leicht, zu vergessen, dass sie unter einer Diktatur lebten. Wahrscheinlich trugen sie deshalb alle Uniform: die Mädchen Tunika mit orientalischem Muster, wallende Bluse und Miniröckchen, die Jungen Lois-Jeans, Pullover aus Shetlandwolle und Schottenkarohemd, vereinzelt auch Krawatte. Sie lachten über alles Mögliche, ein sehr zufriedenes Lachen, und sie kippten ihre Gin Tonics, als wären sie halb verdurstet. Zwei von den Mädchen rauchten extralange Zigaretten. Gabriel zog es vor, an der Theke ein Bier zu trinken. Ich ging zu der Gruppe hin, und alle verstummten. Ich sagte den Namen des Typen und hielt das Päckchen mit den Büchern hoch. ›Von Justine aus Paris‹, fügte ich hinzu. Da kapierte er es und bedankte sich. Das Mädchen, das neben ihm saß, machte ein unwirsches Gesicht. Er öffnete das Päckchen, gab die drei Bücher, ohne sie sich näher anzusehen, an seine Freunde weiter und überflog den beigelegten Zettel. ›Ah, du bist die berühmte Mireille! Justine hat mir viel von dir erzählt. Dann muss der da vorne wohl dein Fernfahrer aus Barcelona sein. Sag ihm, er soll sich zu uns setzen, komm, ich lade euch ein.‹ Ich holte Gabriel, sie machten uns Platz, und wir saßen eine Weile bei ihnen. Obwohl ich die einzige Ausländerin war, wechselten sie ins Französische und taten das sehr gerne. Sie blickten uns neugierig an und stellten uns Fragen, die dann einer für Gabriel übersetzte. Er sagte keinen Ton. Das Gespräch plätscherte von einer Nichtigkeit zur nächsten. Sie gaben sich alle Mühe, spritzig und weltgewandt zu wirken, aber dafür war ihr Französisch zu affektiert, sie klangen pingelig und aufgeblasen. Vor Kurzem waren sie in New York gewesen, und dauernd zitierten sie Andy Warhol. Ohne jede Scham sagte mir der Typ, man nenne sie in Barcelona die Gauche Divine, genau so, auf Französisch, stell dir das mal vor. Ich fragte sie nach der politischen Lage, nach den jüngsten Studentenprotesten. Da hob einer von ihnen das Glas und prostete mit sehr ernster Miene auf die Genossen von der Assemblea de Catalunya, und die anderen taten es ihm gleich, aber richtig überzeugt sahen sie nicht aus. Dieses gemeinsame Eiswürfelklickern machte es mir klar: Sie lebten in einer Scheinwelt, sie bildeten sich ein, ihr Bocaccio sei das Café de Flore oder das Deux Magots, ein Treffpunkt der linken Vordenker. Jede soziale Schicht hat eben ihre eigenen Systeme der Wirklichkeitsflucht. Ich bekam Lust, sie ein bisschen zu provozieren, sie nach ihren Familien zu fragen und was sie beruflich machten und ob sie sehr unter Franco zu leiden hätten, aber einer schnitt mir das Wort ab mit dem Vorschlag, in einen anderen ihrer Tempel weiterzuziehen, zum Abendessen. Ein angesagtes Restaurant, in dem sie Omelettes machten, sagenhaft, wirst schon sehen. Gabriel und ich verabschiedeten uns und ließen sie mit ihrer Komödie alleine. Sie waren ja so verführerisch, sie würden sicher schnell jemand anders finden, der ihnen Honig um die Mäuler schmierte. Wir wünschten uns frohe Weihnachten, und ich bin sicher, zwei Minuten später hatten sie uns schon vergessen.«
»Lucy in the sky with diamonds …«, singt Chris. Der Einwurf hat Sinn, es ist seine liebenswürdige Art, uns daran zu erinnern, dass wir noch ein letztes Detail aus dem Bocaccio erzählen müssen.
Gabriel und Mireille hatten sich gerade von Justines Freund zur Tür begleiten lassen, da tippte jemand unserm Vater von hinten auf die Schulter.
»He, was machst du denn hier? Erkennst du mich etwa nicht wieder?«
Er musste scharf nachdenken, um dieses schmale, kantige Gesicht unter kurzen blonden Haaren zuordnen zu können, musste sechs Jahre zurückgehen, noch einmal auf die Kanalfähre und dort zur flüchtigen
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