Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
natürlich klang. Tante Matilde sprach Spanisch. Da sie schwerhörig sein sollte, gellte ihre Stimme durch den Lichthof. Rita wurde immer besser darin, zweisprachig mit sich selbst über Nichtigkeiten zu reden, manchmal sogar zu streiten. Sie stellte sich ans Küchenfenster und rief: »Was machen wir heute zum Abendessen, Tia? – Na geh zum Markt, Kindchen, und kauf für einen Eintopf ein. Bring mir mal den Geldbeutel.« Wenn das Telefon klingelte, hob manchmal Tante Matilde ab und reichte den Hörer dann an Rita weiter. Meine Mutter weihte keine Menschenseele in das Geheimnis ein, nicht einmal Raquel, denn sie war überzeugt, bei der geringsten Unachtsamkeit könnte es auffliegen. Außerdem half ihr die Tante aus Sagunt dabei, nicht in Starre zu verfallen und sich nicht zu einsam zu fühlen.
Die Farce zog sich ein halbes Jahr hin, bis in den Frühling. So lange war Rita mit dem Geld aus dem Verkauf des Inventars von El Nuevo Sansón sowie ein wenig Erspartem, das Leo für Notfälle in der Kommode gehortet hatte, mehr schlecht als recht über die Runden gekommen. Sie wusste, sobald sie volljährig wurde, stand ihr die Auszahlung der Lebensversicherung zu, eine erkleckliche Summe, doch fürs Erste hatte sie begonnen, arm zu sein, oder sagen wir: bedürftig. Sie blieb zu Hause, um kein Geld auszugeben, und langweilte sich vor dem Fernseher. Sie aß nur zwei Mahlzeiten am Tag, morgens und abends. Im Spiegel fand sie sich abgemagert, bleich, zerbrechlich. Wenn sie so weitermachte, würden sie ihr bald auf die Schliche kommen, sagte sie sich in verzagten Momenten. Vielleicht sollte es so geschehen. Doch als sie schon im Begriff war, den Verstand zu verlieren, setzte ein Glücksfall dem Abstieg ein Ende und krempelte ihr Leben abermals um.
Ihr rettender Engel war der Anwalt, der die Sache mit der gerichtlichen Vorladung für sie geregelt hatte. Wir sollten seinen Namen nennen, oder? Sein Auftritt in dieser Geschichte ist zwar winzig, doch entscheidend.
»Wie hieß er, Mutter, weißt du es noch?«
»Aber klar. Er hieß, er hieß … Carlos Bravo. Klingt nach Schlagersänger. Aber ich sagte Herr Bravo zu ihm. Er hatte sein Büro im Carrer Provença, Ecke Rambla de Catalunya, über der Konditorei Mauri, und er stand schon kurz vor der Rente.«
In seinem langen und schmerzvollen Berufsleben hatte Herr Bravo sich an den Umgang mit skrupellosen Bauernfängern und abgebrühten Schurken gewöhnt. Rita, dieses allein gelassene Mädchen, war für ihn die große Ausnahme, ein wirkliches Opfer, und er hatte Zuneigung zu ihr gefasst. Eines Morgens, nicht lange nach der Beschlagnahmung von El Nuevo Sansón, rief er sie an und stellte ihr ein paar Fragen zu ihren Eltern. Mit ihrer Erlaubnis, bot er an, werde er sich bei Iberia und beim Flughafen um eine finanzielle Entschädigung für sie bemühen. Schließlich müsse jemand für den Unfall die Verantwortung übernehmen. Rita erzählte Tante Matilde von dem Anruf – die ihr auftrug, eine Kerze für ihre Namensgeberin anzuzünden, die heilige Rita, Schutzpatronin der aussichtslosen Fälle – und dachte dann nicht weiter darüber nach. Der Winter ging vorüber, die ersten warmen Tage kamen, und eines Morgens Anfang April rief Herr Bravo sie wieder an.
»Wissen Sie, wer ich bin, Fräulein Manley? Carlos Bravo. Mir scheint, ich habe gute Nachrichten für Sie. Ich habe nachgebohrt, um zu sehen, ob wir irgendeine Kompensation bekommen für die Sache mit Ihren Eltern. Da haben wir nicht viel Glück gehabt. Die Fluggesellschaft Iberia zahlt uns ein Schmerzensgeld, aber ich sage Ihnen gleich, das ist ein Almosen. Besser als nichts, natürlich, aber ich hatte mir viel mehr erhofft. Nun aber: Ich habe mit der Rechtsabteilung des Flughafens gesprochen, und obwohl sie nicht verpflichtet wären, irgendetwas zu zahlen, sind sie in Ihrem Fall weich geworden und haben ein Angebot gemacht. Und zwar wird im Prat ja gerade die neue Halle gebaut, und mit der Erweiterung gibt es da nächstes Jahr auch ein paar zusätzliche Arbeitsplätze. Wenn Sie sich bewerben wollen, und das empfehle ich Ihnen sehr, dann kriegen Sie in jedem Fall eine Stelle. Ich weiß nicht, in welchem Bereich, aber mir wurde versichert, das Gehalt sei korrekt und es bestünden Aufstiegsmöglichkeiten.«
So ergab es sich, dass Rita im August 1968, kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag, anfing, im Flughafen von Barcelona zu arbeiten. Ihr zartes Alter war dabei vielleicht sogar von Vorteil, denn ihr Job bestand im Umgang mit
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