Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
bekommen. »Er sagt, das sei der sicherste Ort, weil er weit weg ist von den Motoren. Das sind so aerodynamische Phänomene«, hatte er dazuschwadroniert.
Der Telefonanruf nach dem Duschen ließ Rita wenig Hoffnung. Mit wohlgesetzten Worten sagte ihr die Frau vom Roten Kreuz, sie solle nicht verzweifeln, doch die Namen ihrer Eltern fänden sich auf der Liste der höchstwahrscheinlichen Todesopfer. Rita hinterließ ihre Nummer und Adresse. Auf dem Bett ausgestreckt, hörte sie Radio, als hielte ein Bann sie in ihrem Zimmer fest. Immer wieder klingelte das Telefon, aber sie hatte keine Lust und auch nicht den Mut, den Hörer abzunehmen. Einige Stunden später schellten zwei Polizisten an der Tür. Vielleicht ist es eine Flucht ins Klischee, aber meine Mutter sagt, es seien zwei steife ältere Männer gewesen, vorschriftsmäßige Schnauzbärte, knittrige Uniformen. Einer der beiden, anscheinend der Gutmütigere, sprach mit süßlich-kindlicher Stimme zu ihr: Wie sie wisse, hätten ihre Eltern auf dem Flughafen einen Unfall erlitten und seien nun im Himmel. Den ganzen Nachmittag hatte Rita sich darauf vorbereitet, die Fassung zu wahren, doch bei den Worten des Polizisten fühlte sie sich plötzlich wie ein ins Unglück gestürztes kleines Mädchen und brach in Tränen aus.
Die beiden Männer gaben sich alle Mühe, sie zu trösten. Sie reichten ihr ein Taschentuch. Sie strichen ihr übers Haar und sagten, sie müsse groß und stark sein. Rita war sechzehn Jahre alt, man sah auf den ersten Blick, dass sie kein Kind mehr war, und nun begann sie sich für alle Beteiligten zu schämen – zuvörderst für ihre Eltern. Brüsk wischte sie sich die Tränen ab, und die Beamten waren ihr dankbar dafür. Der Zweite von ihnen, mit rauerer Stimme und von praktischerer Art, zog ein Formular aus einer Mappe und fragte sie, ob sie Geschwister habe. Nein. Großeltern? Nein. Keine Tante, kein Onkel? Mit jedem Nein wurden die Augen des gutmütigeren Polizisten ein wenig feuchter. Und entfernte Verwandte, könne Sie vielleicht den Namen irgendeines entfernten Verwandten nennen, auch wenn sie ihn seit Jahren nicht gesehen habe? Es gab niemanden, natürlich nicht, aber der dringliche Ton der Frage – sie klang nach letzter Chance – ließ Rita bei der Antwort zögern. Der Gutmütige half ihr nach, indem er sie daran erinnerte, dass sie minderjährig sei und man sie unter den gegebenen Umständen nicht allein lassen könne.
»Ich habe eine Großtante in Sagunt«, sagte sie. Auf Sagunt fiel ihre Wahl, weil sie sich erinnerte, dass ihre Großeltern dort vor langer Zeit einmal gewohnt hatten. »Sie ist schon sehr alt, aber ich habe sie heute Nachmittag angerufen, und morgen Mittag kommt sie mit dem Zug.«
Die Lüge verfing, die Polizisten atmeten auf. Sie baten sie noch um ein Foto ihrer Eltern, dann begleiteten sie sie zu Raquel nach Hause, ihrer besten Freundin. Sie hatte dort in den letzten Monaten schon zweimal übernachtet. Leo und Raquels Mutter kannten sich, weil sie an denselben Marktständen einkauften.
In den nächsten Tagen kam sich Rita vor, als spielte sie in einem Theaterstück. Sie weiß noch, wie sie sich Mühe gab, eine gute Trauernde abzugeben, erinnert sich an die schwarze Kleidung, an das allseitige Mitleid, an die übervorsichtigen Aufmerksamkeiten von Nachbarn und Freunden. Raquels Eltern behandelten sie wie eine Tochter, übernahmen alle Formalitäten für sie, und ihre Freundin benahm sich wie eine eifersüchtige Schwester.
Da man die Ausstellung der Sterbeurkunde abwarten musste, fand die Beerdigung erst am Freitag statt, also sechs Tage nach dem Unfall. Am Donnerstag hatten die beiden Polizisten Rita das Dokument überreicht, unterzeichnet vom Richter und voller amtlicher Stempel, und hatten ihr danach eine seltsame Frage gestellt: »Nun schauen wir mal, hübsches Kind: Könntest du uns bestätigen, ob dein Vater am Tag des Unglücks eine Perücke oder ein Toupet trug?«
Wie sich herausstellte, war das einzige Stück von Conrad, das die Katastrophe überstanden hatte, ein Fetzen seiner Perücke im Alain-Delon-Stil. Bei der Explosion war auch das Gepäck der Passagiere verbrannt, oder es hatte sich im Chaos danach verflüchtigt, doch Stunden später, als die Bergungsmannschaft nach Überresten suchte, die bei der Identifizierung der Opfer helfen könnten, fand ein Feuerwehrmann das Perückenstück. Achtzig Meter von der Unfallstelle entfernt, klebte es zwischen verkohlten Trümmern am Boden fest. Der
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