Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
ihm, er sehe aus wie ein mittelalterlicher König, der von seinen Untertanen die Nase voll habe und auf dem Weg sei, all den Vasallen in den Gästezimmern ihr Todesurteil auszusprechen. Die Erinnerung löste ein schmerzhaftes Lächeln aus, das ihm die frische Naht auf einer der Schnittwunden spannte, und ließ ihn dann erschöpft einschlafen.
Als sie ihn am Mittwochmorgen abholten und zum Flughafen fuhren, war es mit dem Nebel in seinem Kopf vorbei. Nun, da die Beruhigungsmittel fehlten, stürzte die Wirklichkeit mit quälender Wucht auf ihn ein. Jede Sekunde ohne Bundó an seiner Seite durchlöcherte ihm die Schläfen wie die Tropfenfolter. Die Schuld baute sich ihr Nest. Unter diesem Himmel konnte die Zukunft nur grauenhaft werden. Er hatte noch nie ein Flugzeug bestiegen, doch seine Angst davor wurde erstickt von seinen anderen Ängsten. Ein Wettstreit der Schmerzen. Und es war doch erst acht Uhr morgens.
Vom Krankenhaustor aus, gekleidet in Sachen, die sie ihm dort gegeben hatten, sah er zwei schwarze Autos heranrollen. Das eine war ein Leichenwagen, das andere steuerte ein Fahrer des Konsulats. Der stieg aus und öffnete ihm die hintere Tür, doch Gabriel gab ihm zu verstehen, dass er vorne sitzen wolle, neben ihm. Er war doch kein hohes Tier. Als er saß, gab ihm der Chauffeur eine Mappe mit dem Konsulatsemblem und eine Reisetasche aus schwarzem Segeltuch. Er fand darin ein paar Hinterlassenschaften von Bundó und noch andere Gegenstände aus dem Pegaso. Einen Flaschenöffner zum Beispiel und seine eigene Sonnenbrille, die ihm oft nützlich gewesen war und ihn nun wütend machte. Außerdem ein Hemd und eine Hose von Bundó, im Konsulat sorgfältig gereinigt und gebügelt. Es waren die Kleider, die er nach dem Umzug in Hamburg angezogen hatte, doch Gabriel erkannte sie kaum wieder. Bundó hatte ja immer seine Anhänglichkeiten gehabt, und in den letzten Monaten war dies sein Lieblingshemd gewesen. Er hatte es sich bei einem Umzug nach Bonn (Nummer 188) unter den Nagel gerissen, und es gefiel ihm so sehr, weil es, wie er sagte, die drei wichtigsten Eigenschaften eines guten Arbeitshemds für den Winter vereinte: Es war aus Flanell, also warm. Es war weit geschnitten, man hatte also Bewegungsfreiheit. Und es wurde nicht schmutzig. Letzteres sah nur er selbst so. Bundó bekleckerte sich bei jedem Essen, doch es kümmerte ihn nicht. Wenn Gabriel und Petroli ihm deshalb Vorhaltungen machten, fing er an zu scherzen und suchte in den Flecken geografische Formen: ein Italien aus Tomatensoße, eine Iberische Halbinsel aus Allioli, ein Afrika aus Schokoladeneis. Das Hemd hatte ein schwarz-weißes Fischgrätenmuster, modern, sehr auffällig und für Flecken eine gute Tarnung. Aber wie Gabriel es nun wieder sah, so weich und sauber, mit gestärktem Kragen, fühlte er sich noch schlimmer niedergeschmettert als zuvor. Es war, als hätte man jede Spur des Freundes aus dem Hemd getilgt.
Um nicht mehr daran zu denken, öffnete er die Mappe vom Konsulat. Jemand, vielleicht der Sekretär selbst, hatte ihm dort ganz ordentlich sein Flugticket zu den im Lkw gefundenen Dokumenten gelegt. Er fand seinen Pass, auch Bundós Pass, außerdem Routenpläne, die Fahrzeugpapiere, ungeschriebene Postkarten, einige an den Rändern eingerissene Landkarten (Bundó faltete sie immer falsch zusammen), einen zerknitterten Prospekt über die Wohnungen in der Via Favència, Petrolis Liste mit den spanischen Emigrantenvereinen und so weiter. Es widerstrebte ihm, die Papiere durchzusehen, zugleich überraschte es ihn, wie gegenwärtig Bundó in ihnen war.
Auf einem der Zettel erkannte er seine eigene Handschrift. Dort hatte er Zahlen untereinandergesetzt und addiert, als sie einmal auf der Fahrt darüber stritten, wie viele Kilometer sie zusammen schon mit diesem Pegaso gemacht hatten. Ein weiteres, noch ziemlich neues Blatt mit dem Briefkopf von La Ibérica – ein gezeichneter Möbeltransporter auf dem Weg durch eine kleine Europakarte – enthielt eine Liste von Daten, Uhrzeiten und Arztnamen. Rebeca, die Sekretärin, hatte sie getippt, und für Gabriel fühlte sie sich wie ein Dolchstoß in den Rücken an: Diese Liste behauptete eine gemeinsame Zukunft für ihn und Bundó, die es doch nie wieder geben konnte. Alle zwei Jahre waren die Fahrer von La Ibérica verpflichtet, sich ihre Eignung zum Steuern eines Lkw ärztlich bestätigen zu lassen. Diese Untersuchungen wurden in der Klinik der Mútua vorgenommen, und Rebeca machte die Termine mehrere
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