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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Feuerwehrmann löste es ganz behutsam vom Asphalt, denn er dachte, es wäre ein Stück Kopfhaut, doch die Laboranalyse schaffte Klarheit. Rita selbst bekam den versengten Schopf nie zu Gesicht, doch dieses Überbleibsel der väterlichen Eitelkeit brachte sie auf die Idee einer letzten Ehrbezeugung.
    Eine der wenigen in die Zukunft gerichteten Entscheidungen, die Conrad je getroffen und die ihm Leo immer wieder vorgehalten hatte, war der Abschluss einer Lebensversicherung bei La Unión y el Fénix. Die Särge waren also vorab bezahlt, und so bestimmte Rita, dass trotz der fehlenden Leichname auch das Begräbnis begangen werden sollte. Im letzten Moment, als die beiden leeren, mit Damast ausgekleideten Kisten schon bereitstanden, um aus dem Haus getragen und zur Totenmesse in die Kapelle Sant Llàtzer gebracht zu werden, verteilte sie die Perückensammlung ihres Vaters in seinem Sarg. Ein Dutzend Stück, von jenem ersten Haarhelm, der wie eine Trappermütze aussah, bis zu dem Exemplar, das er sich zu seiner Hochzeit gegönnt hatte, und alle zusammen zeichneten sie die Etappen seines Lebens nach. Damit ihre Mutter nicht leer ausging, schnitt Rita dann noch aus einer älteren Ausgabe der Garbo ein Foto von Hedy Lamarr und Victor Mature aus und legte es ihr in den Sarg. Die neuen Samson und Delila.
    Erst nach der Beerdigung wurde ihr wirklich bewusst, dass sie nun allein auf der Welt war. Von einem Tag auf den anderen verlor der heimliche Wunsch all seinen Zauber und verwandelte sich in eine Last. Rita brauchte länger als ein Jahr, um sich in ihrer neuen Lage als Vollwaise zurechtzufinden. Und als es ihr schließlich gelang, war sie ein anderer Mensch geworden.
    Der große Tritt in den Hintern kam aus der Ecke ihres Vaters. Da sie nicht vorhatte, zu studieren, war Rita mit fünfzehn Jahren von der Schule gegangen. Seitdem hatte sie die Zeit zu Hause verbracht und so getan, als würde sie in Fernkursen nach ihrer Berufung suchen. Per Post hatte sie Stricken gelernt, Französischkurse angefangen, einen Lehrgang für Messehostessen belegt … Verwöhnt, wie sie war, hatte sie sich mit alldem bald gelangweilt. Erstaunlicherweise aber riss der Tod ihrer Eltern sie aus dieser Lustlosigkeit, und eines Morgens um neun Uhr, wenige Tage nach dem Begräbnis, öffnete sie den Perückenladen wieder.
    »Meine Eltern hatten kein Testament hinterlassen, ich hatte El Nuevo Sansón geerbt, und da dachte ich mir, ich sollte mich darum kümmern«, so sagte Rita Jahre später. »In den ersten Tagen wurde mir bei dem Andrang ganz schwindelig, aber zugleich fühlte mich auch angespornt. Früher hatte ich ab und zu im Laden ausgeholfen, aber jetzt musste ich ja alles Geschäftliche selbst regeln. Kunden kamen, um ihre Bestellungen abzuholen, und ich musste das halbe Lager auf den Kopf stellen, ehe ich sie fand. Die Lieferanten nutzten meine Unerfahrenheit, um ihre Ladenhüter an mich loszuwerden. Und pausenlos klang mir der alte Singsang meines Vaters im Kopf: ›Das Geheimnis ist, die Perücken täglich zu kämmen, damit sie schön prächtig auf den Puppenköpfen sitzen. Es ist sehr wichtig, dass die Männer, vor allem die älteren, die Scheu vor dem Anprobieren eines Haarteils verlieren. Lass sie vor dem Spiegel allein, gib ihnen das Gefühl, ganz ungestört zu sein.‹ Die ersten zwei Wochen schwirrte mir so sehr der Kopf, dass ich nicht einmal sagen konnte, ob die Arbeit mir gefiel. Die einzige Gewissheit war, dass ich jeden Abend vor dem Heimgehen Kassensturz machte und die Abrechnung nie stimmte. Ich schaute in das Heft, in dem mein Vater alle Käufe und Verkäufe festgehalten hatte, und verstand nichts. Du musst dir einen Buchhalter mieten, sagte ich mir, um mich zu beruhigen. Doch dann trat eines Tages ein junger Herr im feinen Anzug und mit Köfferchen in der Hand in den Laden, und alles ging – zum Glück, sage ich heute – den Bach runter. Ich dachte zuerst, der Mann wäre ein Vertreter, aber er war ein Anwaltsgehilfe. Er stellte sich vor und verlangte nach Conrad Manley. Ich erklärte ihm, dass meine Eltern kürzlich gestorben waren. Er blickte mich skeptisch an. ›Das ist kein Scherz, oder?‹ Nein, sagte ich, und als ihr einziges Kind trüge nun ich die Verantwortung fürs Geschäft. Er sprach mir sein Beileid aus, aber dann wurde seine Miene noch strenger als zuvor. Er reichte mir ein Papier und sagte: ›In diesem Fall, Fräulein Manley, kann ich Ihnen nur empfehlen, sich einen guten Anwalt zu suchen. Sie sind offensichtlich

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