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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Monate im Voraus, damit es keine Überschneidungen mit schon vereinbarten Umzügen gab. Bundó und Gabriel gingen immer zusammen hin. Darauf bestand Herr Casellas, er sagte, so könne er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und sicherstellen, dass sie es nicht vergäßen. Am Tag, bevor sie die verhängnisvolle Fahrt nach Hamburg antraten, hatte Rebeca Gabriel ins Büro gerufen und ihm zwei Exemplare der Liste ausgehändigt.
    Daten der ärztlichen Kontrolluntersuchungen von Gabriel Delacruz und Serafí Bundó
    (Ja, ich weiß, besser wäre alles an einem Tag, aber das ist nicht möglich).
    Ort: Mútua del Transportista. Clínica Platón, Calle Platón, 33.
    Donnerstag, 20. April, 9 Uhr morgens: Blutprobe. Da muss man nüchtern hinkommen – das heißt, ohne zu frühstücken, Bundó.
    Freitag, 28. April, 10 Uhr morgens: Augenarzt. Dr. Trabal.
    Freitag, 5. Mai, 10.30 Uhr morgens: HNO. Dr. Sadurní.
    Montag, 8. Mai, 9 Uhr morgens: allgemeinärztliche Untersuchung. Frau Dr. Pacharán.
    Gabriel war gebannt von der Beschwörungskraft der Papiere, so schmerzhaft und zugleich so heilsam, und er legte sie erst wieder aus der Hand, als sie auf die Autobahn fuhren. Dort nahm er die beiden Pässe und sein Flugticket an sich und packte die Mappe in die schwarze Tragetasche. Ein paar Kilometer weiter, als sie sich der Unfallstelle näherten, bat er den Fahrer, anzuhalten.
    »Zwei Minuts. It’s important.«
    Ganz langsam, weil der eingegipste Arm es ihm schwer machte, das Gleichgewicht zu halten, stieg er den Hang hinunter. Der Fahrer überwachte ihn von oben. Da der Pegaso am Vortag weggeschafft worden war, blieb nur die Schneise aus umgemähter Vegetation und aufgewühlter Erde. Zerdrücktes Gebüsch und verstreute Glassplitter markierten die Stelle, an der die Abfahrt des Lasters ihr Ende gefunden hatte. Dahinter war alles von einer überfrorenen Schneedecke verhüllt. Er stieg noch ein wenig weiter hinab. Hier und da fand er Trümmerreste. Einen Fetzen Reifengummi, ein Stück vom Außenspiegel.
    Warum hatte er an die Unfallstelle zurückkehren wollen? Drei Wochen später, in Barcelona vergraben und immer noch unfähig, zu weinen, würde er sich sagen, es war der erste Versuch, seine Tränen zu finden. An dem Tag selbst aber marterte er sich mit einem Sarkasmus über den Mörder, den es wieder an den Tatort zieht. Der Chauffeur pfiff vom Straßenrand und bedeutete ihm mit Gesten, er solle hochkommen, sonst würden sie den Flug verpassen. Doch Gabriel blieb noch ein wenig unten. Die Sonne hatte sich hervorgekämpft, fleckenweise fing der Schnee schon an zu schmelzen. Ihm war aufgefallen, dass etwas fehlte. Mit der Schuhspitze pflügte er durchs Laub und durch die Erde. Der Fahrer pfiff erneut, drängend. Gabriel war schon im Begriff, die Suche aufzugeben, da spürte er etwas Weiches unter dem Fuß. Er hatte es gefunden. Das Beuteheft. Die getreulichste Dokumentation seiner Abenteuer mit Bundó und Petroli in Gottes weiter Welt.
    Er beeilte sich zurück zum Auto, und der Leichenzug setzte seine Fahrt zum Flughafen fort.
    Das war es, was ihr wolltet, oder, Christofs? Fakten verlangtet ihr von mir. Da habt ihr die Fakten! Schön der Reihe nach, als hätte ein fieser, launischer Gott sie aufgefädelt. Und es ist noch nicht vorbei damit, meine Herren. Gabriel und Bundós Leichnam fliegen nun nach Barcelona. Es ist das erste Mal, dass unser Vater in einem Flugzeug sitzt, aber er ist so zerschmettert von den Fakten – den Fakten! –, dass er nichts mitbekommt. Zur selben Zeit hat sich Rita am Flughafen für einen weiteren Arbeitstag in den Käfig begeben, wie sie zu sagen pflegte.
    Ihr könnt nachrechnen, dass sie an diesem 16. Februar 1972 schon seit dreieinhalb Jahren dort arbeitete. Ihre Eltern hatten in dieser Zeit ohne Eile einen festen Platz in ihrem Gedächtnis eingenommen. Einen Vorzugsplatz selbstverständlich, aber isoliert und unveränderlich, geradezu legendär – wie sich zeigen wird. Unterdessen hatte die Vollwaise die Sicherheit zu schätzen gelernt, die eine tägliche Routine und ein festes Monatsgehalt vermitteln können. Ihre Arbeit in der Gepäckreklamation hatte von Beginn an ihr Gefühl von Eigenständigkeit gesteigert. Zum Beispiel hatte sie sich daran gewöhnen müssen, früh und alleine aufzustehen. Um sieben Uhr morgens nahm sie den Bus, eine Stunde später rahmte sie am Flughafen ihr Dienstlächeln mit Lippenstift ein, zog eine Uniform an, in der sie sich wie eine Stewardess vorkam, und begann, sich

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