Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Blick auf dem Friedhof, als die Stimme aus dem Off etwas über die unschuldigen Opfer und die hinterbliebenen verzweifelten Waisenkinder erzählte.‹ Diese Wochenschau hat es zwar in Wirklichkeit nie gegeben, aber ich kann dir sagen, dieser Trick verfehlte seine Wirkung nie.«
Das Reklamationsbüro lag in einem schlecht beleuchteten Winkel in der unteren Etage des Terminals versteckt, hinter den Gepäckbändern. Nach außen war es ein Schalter mit zwei Fenstern, innen verbarg sich hinter einer stets geschlossenen Tür ein großer Raum, bis unter die Decke vollgestopft mit verlorenen Koffern, Kisten, Bündeln. In jeder Schicht arbeiteten dort vier Personen, zwei am Schalter, zwei im Magazin. Rita nannte das Büro Käfig, nicht so sehr wegen seiner Enge oder weil sie den Tag über dort eingesperrt war, sondern weil es Assoziationen aus dem Tierreich in ihr weckte.
»Wenn wir mit den Kunden reden, sind wir wie Papageien«, sagte sie.
Zusätzlich zum Schalterdienst hatte man sie nach ihren ersten Monaten in zwei Hinterzimmertätigkeiten angeleitet. Die eine war das Erfassen und Einsortieren neu eingetroffener Gepäckstücke; für Rita die langweiligste Arbeit. Blieb ein Koffer auf dem Gepäckband liegen, schon schwindelig nach hundert Runden, so brachte ein Flughafenarbeiter ihn in den Käfig. Der oder die Diensthabende dort trug das Fundstück mit grober Beschreibung ins Register ein: Größe, Farbe, Gewicht, weitere Merkmale, die die Identifikation erleichtern könnten. Wenn der Koffer mit einem Adressschild versehen oder schon telefonisch gemeldet worden war, ging er mit dem nächsten Flug an seinen Bestimmungsort. Hatte hingegen nach Ablauf einer Woche niemand darauf Anspruch erhoben, so wurde er, wie sie im Käfig sagten, zur Autopsie freigegeben.
Dieses Aufknacken von Gepäck war Ritas Lieblingsarbeit. Oft brauchte man bloß eine Schnalle zu öffnen oder einen Knoten zu lösen, aber bei Koffern mit Sicherheitsverschluss musste man die Nähte auftrennen oder mit dem Hammer das Schloss zertrümmern. Danach war der Inhalt auf einem langen Tisch auszubreiten und nach Hinweisen auf den Eigentümer zu durchsuchen. Manche Kollegen im Käfig ekelten sich vor der Autopsie. Die fremdartigen Gerüche, die so einer Tasche entsteigen konnten, widerten sie an oder die seltsame Weise, wie die – möglicherweise schmutzige – Wäsche darin zusammengefaltet war; oder auch die verletzte Intimsphäre, von der die Gegenstände in vorwurfsvoller Kälte kündeten. Dagegen kam sich Rita bei diesen Operationen wie eine Nachwuchsdetektivin vor. Wenn sich im Gepäck kein klärendes Dokument fand, hatte sie ein Talent dafür, andere Indizien aufzuspüren: ein Döschen Antidepressiva oder ein ärztliches Rezept in einem Arzneitäschchen; ein Roman auf Italienisch, in dem vorne der Name des Besitzers stand; ein Aschenbecher und Handtücher, aus einem Hotel in Acapulco gestohlen … Kamen Wertgegenstände wie Schmuck oder eine teure Uhr zum Vorschein oder machte das Gepäckstück einen verdächtigen Eindruck, war sie verpflichtet, es der Guardia Civil zu melden, die sich dann der Sache annahm.
Rita gibt zu, dass ihre eigenen Untersuchungen selten zur Aufklärung beitrugen, aber sie machten ihr großen Spaß. Sie könnte uns endlos Anekdoten erzählen, zum Beispiel die von Soutane und Strapsen zusammen in einem Koffer, dessen Verlust der Herr Pfarrer niemals meldete, die von einem mumifizierten Affenfötus nebst weiteren Artikeln der schwarzen Magie oder die einem nach Chile ausgewanderten Galizier, der, auf Urlaub in der alten Heimat, eine Kiste voll trockenen Brotes für die Hühner mitbrachte. Auch ist Rita heute bereit, einzugestehen, dass die Fahndungserfolge oft ausblieben, weil sie selbst sie hintertrieb. Wenn der Inhalt eines Koffers ihr wertvoll erschien, räumte sie ihn ins Magazin, ohne jemandem etwas zu sagen, und stellte ihn somit in den Tiefen des Käfigs dem Vergessen anheim. So gründlich wurde er dort vergessen, dass er sich mit der Zeit ganz in Luft auflöste.
Wie ihr seht, Christofs, hatte Rita mit der Anpassung an die Arbeitswelt keine Schwierigkeiten. Sie war mit einer Begeisterung bei der Sache, die sich ihre Kollegen nicht zu erklären vermochten. Zwar war ihr Lohn nicht üppig, doch sie konnte davon alleine und ohne Not leben, zumal in Erwartung des Sümmchens, das ihr, sobald sie ihr einundzwanzigstes Jahr vollendet hätte, aus der Lebensversicherung ihrer Eltern zustand.
Allerdings wäre dieses Porträt von
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