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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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Rita am 16. Februar 1972, dem Tag, als sie mit Gabriel zusammentraf, unvollständig, wenn wir sie nicht auch kurz zu Hause besuchen würden. Ihr Privatleben war in den letzten Jahren zusammengeschrumpft. Die Kofferinspektionen genügten ihr zur Befriedigung ihrer jugendlichen Abenteuerlust. Ein Übriges taten die Arbeitszeiten. Jedes dritte Wochenende hatte sie Dienst, und ihre alten Freundinnen sah sie nicht mehr so häufig. Wenn sie zusammen ausgingen, merkte sie, dass ihre Prioritäten sich verschoben hatten. Weder war ihr danach, die Welt kennenzulernen, wie Raquel, die nun studierte und ins Ausland wollte, noch träumte sie davon, zu heiraten und viele Kinder zu haben.
    »Du hast ja dein Leben schon geregelt«, sagten ihr die Angepassteren mit einem Anflug von Neid, den sie nicht verstehen konnte, zumal sie in ihrer Einsamkeit noch immer unfähig war, irgendetwas in der Wohnung zu verändern. Als wäre dort an jenem fatalen Samstag die Zeit stehen geblieben, schlief sie weiter in ihrem Jugendzimmer. Ganz am Anfang hatte sie ein paar Schränke geleert und die Kleider ihrer Eltern dem kirchlichen Hilfswerk gespendet, aber weiter war sie mit dem Ausräumen nicht gegangen. Zu viele Erinnerungen, zu viel Staub. Nun war das Elternschlafzimmer immer verschlossen und dunkel, als hätte man es der Wohnung amputiert. Zum Essen setzte sie sich an denselben Platz am Tisch, auf dem sie früher immer gesessen hatte.
    »Man kann sagen«, so meine Mutter selbst, »dass ich mit zwanzig Jahren schon dabei war, mich in eine alte Jungfer zu verwandeln. Ein Glück, dass dein Vater auftauchte und mich davor bewahrte.«
    Glück oder kein Glück. Mehr als an Gabriel, sage ich ihr, lag es doch wohl an der Garbo. Sie nimmt die Provokation mit einem spöttischen Lächeln hin. Sosehr ihr die Arbeit am Flughafen mit ihren Schummeleien und kleinen Raubzügen das Alleinsein in der Welt erleicherte, so sehr betäubte sie zugleich ihr Gefühlsleben. Die Kollegen im Käfig waren schon Familienväter oder jedenfalls zu alt für ihren Geschmack, und ihre Freundinnen fand sie, wie gesagt, entweder zu langweilig oder zu unternehmungslustig. So wurde die Welt der Garbo ihr nach und nach zum einzigen echten Bezugsrahmen. Jeden Freitagnachmittag kaufte sie für fünf Peseten die neue Ausgabe. Sie setzte sich in die Mandelmilchbar La Valenciana an der Ecke Gran Via und Aribau und tauchte dort ein in jenen so sonnenklaren wie unerreichbaren Kosmos. Farah Diba fuhr den ganzen Winter über in St. Moritz Ski, Maria Pia von Savoyen gab vertraulichen Rat, Raquel Welch zeigte, mit welcher Frisur man auf der Höhe der Zeit war. Rita träumte nicht von Prinzen auf weißen Pferden und war auch nicht so naiv, all die polierte Sorglosigkeit für bare Münze zu nehmen. Aber die Frauen aus der Garbo bestärkten sie in einem Gefühl, das sie schon lange hatte: dass das Leben ein Schlachtfeld der Zufälle sei und man ihm besser das Gesicht zuwenden sollte, als ihm den Rücken zu kehren.
    Außerdem gab es ja noch das Horoskop. Einige Tage nach dem Begräbnis, als sie wieder in der neuen Ausgabe blätterte, erinnerte sich Rita natürlich, mit welcher Genauigkeit dieser Argos den Unfall und den Tod vorhergesehen hatte. Sie las die Wochenprognose für ihr Sternzeichen, Jungfrau, und war erneut verblüfft: »Tage unerwarteter Umwälzungen. Doch wenn Sie nun stark bleiben, wird die Zukunft Sie entschädigen.« Sogleich schrieb sie dem Astrologen einen Brief, in dem sie ihn zu seiner Weisheit beglückwünschte. Der Mann oder die Frau, die sich hinter dem Pseudonym verbarg, blieb ihr eine Antwort schuldig, aber das entmutigte sie nicht. Als sie die Adresse suchte, hatte sie festgestellt, dass die Redaktion ganz in ihrer Nähe saß, im Carrer Tallers 62, und an einem freien Nachmittag ging sie hin und sagte, sie wolle mit Herrn Argos sprechen. Die Empfangsdame wimmelte sie ab, indem sie sagte, das sei unmöglich, nicht einmal sie selbst wüssten, wer hinter dem rätselhaften Namen stecke. Nur der Herausgeber kenne das Geheimnis. Jede Woche erhielten sie seine Texte per Post, in einem Umschlag ohne Absender.
    Durch dieses Mysterium erst recht angespornt, analysierte Rita ihr Horoskop wie eine Besessene. Gleich am Kiosk schlug sie freitags die Rubrik des Sterndeuters auf und las den ihr zugedachten Absatz laut vor. Argos’ Worte waren musterhafte Orakelprosa, zugleich so schwammig und so persönlich, dass man sie sich ohne Wenn und Aber zu eigen machen konnte. Mit der Zeit

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