Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
bestgehütetes Geheimnis: Sie führte ein Doppelleben und arbeitete des Nachts als Dirne in der Straße Conde de Asalto (…)
Gabriel las die Erzählung noch in derselben Nacht, starr vor Schreck, und je weiter sich diese Ansammlung von Schweinereien vor seinen Augen entfaltete, desto mehr wuchsen zugleich seine Erregung und seine Angst vor dem, was ihm geschehen würde, wenn die Ordensschwestern ihn ertappten. Am nächsten Morgen beim Frühstück trat er von hinten an Bundó heran und nahm ihn in den Schwitzkasten.
»Bist du wahnsinnig geworden?«, zischte er ihm ins Ohr.
Der Freund grinste zufrieden.
»Ich werde deine Geschichte verbrennen. Noch heute Nachmittag. Sobald ich kann.«
Doch es wurde Abend, und Gabriel schloss sich wieder in der Toilette ein, las den Text von Neuem, beklommen, als handelte es sich um ein Testament zu seinen Ungunsten, und am Ende verbrannte er ihn dann doch nicht. Er hat ihn nie verbrannt. Der Beweis ist, dass wir ihn noch heute lesen können. Wie oft mag der Heranwachsende, erschüttert von der Schwere des Vergehens, die beiden Blätter im letzten Moment verschont haben, das entzündete Streichholz schon in der Hand. Ein Pusten. Die Flamme verlischt. Eine Erleichterung.
Im Grunde bewahrte Gabriel diese Geschichte seine ganzen restlichen Jahre im Waisenhaus hindurch auf wie einen Schatz – wie das Juwel seiner Sammlung. Weil Schwester Mercedes noch jung war, versah sie hauptsächlich Aufgaben innerhalb des Ordens und kam nur selten mit den Schülern in Berührung. Zum Glück. Denn jedes Mal, wenn er mit ihr sprechen musste, begann Gabriel zu stammeln und wurde puterrot. Sie tat ihr Bestes, um das verschüchterte Kind zu beruhigen, herzte und liebkoste es, doch damit verschlimmerte sie die Symptome natürlich nur. Eine Zeit lang machte Gabriel von der Geschichte so oft Gebrauch, dass er schon glaubte, die Nonne würde das Spiel mitspielen, und sie beide hätten sich insgeheim ineinander verliebt. Als Bundó diese quijotesken Anwandlungen bei ihm bemerkte, holte er ihn zurück auf den Boden der Tatsachen, indem er ihm neue Geschichten schrieb, die weit weg vom Heim und in weitaus weniger hygienischer Umgebung spielten: im Somorrostro, im Schwimmbad Banys de Sant Sebastià oder in einer Zigeunerhütte an den Hängen des Montjüic.
Wir schätzen, dass diese pornografische Allianz der beiden Freunde rund anderthalb Jahre andauerte. Jeder schrieb an die vierzig Erzählungen, wobei allerdings viele Protagonistinnen wiederkehren und sich Handlungsverläufe wiederholen. Die Blätter sind von ihren zahllosen Einsätzen stark abgenutzt. So abwegig es scheinen mag: Gabriel und Bundó kamen zu dem Schluss, dass die beste Tarnung für die Geschichten war, sie unter die Papiere aus dem Religionsunterricht zu mischen. Deshalb trugen sie auch immer einen Titel, der den Ordensschwestern, falls sie darauf stoßen würden, unverdächtig vorkommen musste: »Die Blumen der Virgen de Mayo«, »Der Leidensweg des Pater Salustio« oder »Das Mysterium der Kreuznägel Christi«.
Als sie begannen, für das Umzugsunternehmen zu arbeiten und somit in der Außenwelt zu leben, wurden die Worte und Fantasien nach und nach von der prosaischen Wirklichkeit des viel gerühmten Geschlechtsverkehrs verdrängt. Allerdings sind wir Christofs überzeugt, dass jene selbst erschaffene erotische Bibliothek ihnen einen Nachgeschmack hinterließ, der ihren Umgang mit Frauen aus Fleisch und Blut durchaus geprägt hat. Wie dem auch sei: Selbst Jahre später, als sie mit dem Möbellaster durch Europa tourten, tappten sie noch oft in die Falle der Erinnerung und erlebten wieder diese Nähe von Religion und Sex, als wären es die zwei Seiten einer Medaille. Wie die meisten Lkw-Fahrer hatten Gabriel, Bundó und Petroli die Kabine ihres Pegaso mit Bildern nackter Frauen tapeziert. Sie stammten aus Kalendern von 1967, 1968 und 1969, die ihnen zu Neujahr an deutschen und französischen Tankstellen geschenkt worden waren. Eine Galerie von üppigen Walküren und verschämten Kätzchen, die auf Pirelli-Reifen oder auf den glänzenden Motorhauben stets roter Autos posierten. Die drei Freunde waren den Anblick dieses papiernen Harems so gewohnt, dass er ihnen gar nicht mehr auffiel. Doch jedes Mal, wenn sie heimkehrten und sich dem Grenzübergang La Jonquera näherten, mussten sie all die Blätter umdrehen und die Bildchen zum Vorschein bringen, die sie zur Tarnung auf die Rückseiten geklebt hatten. Das fromme Antlitz des Heiligen
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