Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
oder ein paar Kleinanzeigen setzen. Doch da er schmächtig und schlecht ernährt war, wurde ihm in dem stickigen Keller von all den spiegelverkehrten Buchstaben nur schwindelig. Jeden Tag war er zwölf Stunden lang in der Druckerei begraben, von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Zweimal im Monat musste er auch am Wochenende arbeiten, denn in der Casa de la Caritat wurde das Montagsblatt gedruckt. Wenn er von der Arbeit kam, hätte er sich gern ein wenig in seinem alten Stadtviertel vergnügt, wäre, da sie ihm nun etwas mehr Bewegungsfreiheit gewährten, auf die Rambla gegangen oder noch weiter, über die Plaça de la Universitat und den Carrer Aribau hinauf. Aber nein, er musste rennen, um die Straßenbahn und danach den Bus zu erwischen und ganz Barcelona bis zu den Llars Mundet zu durchqueren. Die Ordensschwestern waren sehr streng mit dem Zeitplan: Wenn er zu spät kam, gab es für ihn kein Essen mehr, und sie zeterten obendrein.
Eines Abends, die Straßenbahn erklomm gerade den Carrer Dos de Maig und der Funkenflug von der Oberleitung erleuchtete die rußigen Fassaden, da bemerkte er, wie zwei kleine Mädchen mit dem Finger auf ihn zeigten und kicherten. Unwillkürlich suchte er sein Spiegelbild in der Fensterscheibe, doch er erkannte sich nicht wieder. Er trug einen Tintenschnurrbart unter der Nase und lauter schwarze Striche im Gesicht, und in dieser Maske erblickte er die Züge eines düsteren, ausgelaugten Mannes. Plötzlich sah er sich um zwanzig Jahre in die Zukunft versetzt, immer noch dieselbe Strecke fahrend, und war so unglücklich wie nie zuvor. So muss es sich anfühlen, alt zu werden, dachte er entmutigt. Ein Stoß, der durch die Straßenbahn ging, befreite ihn von der traurigen Vision; das Spiegelbild verschwand.
Bundó hatte mehr Glück. Ihm halfen seine breiten Schultern und sein beherzter Umgang mit den Überraschungen des Lebens. Die Oberin, Schwester Elvira, entstammte einer wohlhabenden Familie aus dem Viertel Bonanova. An ihr selbst nagte zwar das eine oder andere Schuldgefühl, doch ihre Eltern und Geschwister hatten die Erschütterungen des Krieges erstaunlich gut überwunden und, seit ihre Leute an der Macht waren, emsig an der Wiederherstellung jener alten Ordnung gearbeitet, die ihnen behagte. Selbstredend waren sie im Januar 39, nachdem sie zwei lange Jahre mehr schlecht als recht auf einer Finca außerhalb Barcelonas überdauert hatten (versteckt und verschreckt, ohne Dienstmädchen und gezwungen, Kaffee und Frühstück zu rationieren), die Ersten gewesen, die auf dem Balkon ihres Stadthauses die weiße Fahne gehisst hatten und dann bis hinunter auf die Diagonal gelaufen waren, um den Siegern zuzujubeln. Robert Casellas, der große Bruder von Schwester Elvira, hatte das Familienunternehmen geerbt und noch einmal ganz neu aufgezogen. Jedes Jahr am 18. Juli feierte er seinen Erfolg, indem er der Casa de la Caritat eine Spende zugedachte. Wir sprechen hier von stattlichen Summen, denn er sah in diesen Gaben den besten Weg, sich einen Vorzugsplatz im Himmelreich zu sichern. Als einzige irdische Gegenleistung bat er seine Schwester dann und wann, ihm Möbelpacker für die Spedition zu überstellen. Kräftig und ohne größere Macken sollten sie sein – und Waisen, denn die kamen ihm nicht mit Familienfeiern als Ausreden an. Dieses Schicksal ereilte also den jungen Bundó.
Die Firma hieß Transportes y Mundanzas La Ibérica. Ihre Büros und ihre Garage lagen im Carrer Almogàvers, nahe bei der Rambla del Poblenou. Dort schlummerten drei DKW-Kleinlaster und, wuchtig und glänzend, drei Pegaso-Lkws. Die Kleinlaster wurden für die leichten Arbeiten eingesetzt und gelangten fast nie über die Provinzgrenzen hinaus, während die Pegasos für die großen Umzüge bestimmt waren und, wenn nötig, von Barcelona aus jeden Ort in Spanien ansteuerten. Alle sechs Fahrzeuge waren beinahe aus erster Hand. Zwar hatten die Kollektivierungen von 1937 die Firma sämtliche Maschinen und Mitarbeiter gekostet, doch Robert Casellas hatte nach dem Krieg alles zurückgewonnen, indem er beim Verkehrsministerium gutes Wetter gemacht hatte. Die Lastwagen waren sein ganzer Stolz, und er konnte Stunden damit verbringen, sie mit einem Gefühl väterlicher Liebe zu betrachten. Wenn sie von einem Einsatz heimkamen, ließ er sie von seinen dienstjüngsten Arbeitern säubern und polieren, bis sie aussahen wie frisch vom Band gelaufen.
Obwohl er als Lehrling nur einen Hungerlohn bekam, von dem obendrein noch ein
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