Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Vaters Paul VI. oder das der Muttergottes von Montserrat führte sie sodann auf den rechten Weg über die holprigen Landstraßen von Francos Spanien.
Um, wie es sich gehört, weiter voranzuschreiten, müssen wir Christofs nun in den Carrer Nàpols zurückkehren. Als wir uns zum ersten Mal in Barcelona trafen, alle noch verstört von den Neuigkeiten, ungläubig und misstrauisch, zeigte uns Cristòfol die Wohnung des Vaters.
Es war ein Maisamstag, überstrahlt von einer Frühjahrssonne, die uns drei Besuchern von jenseits der Pyrenäen wie ein göttliches Privileg vorkam. Wir waren um zwei Uhr im Restaurant des Hotels in der Innenstadt verabredet, in dem Cristòfol für uns Zimmer gebucht hatte. Wir lernten uns ein bisschen kennen und aßen dann zusammen. Die ersten Stunden waren wir höflich-reserviert miteinander, alle vier zu angespannt und auch noch zu unsicher mit der Sprache, als dass bei Tisch das Eis hätte brechen können. Unser einziges gemeinsames Thema war unser Vater, aber wir sprachen von ihm wie von einem Fremden, was er für uns ja auch war – wie ein kapriziöser Gastgeber, der uns überraschend versammelt hatte, und nun mussten wir herausfinden, warum. Am späten Nachmittag spazierten wir durch das Viertel Ribera, machten halt vor der Markthalle von Born – schon lange geschlossen und mit Brettern vernagelt –, um des ersten Lebenstages unseres Vaters zu gedenken, und danach durchquerten wir den Parc de la Ciutadella in Richtung Carrer Nàpols.
Sobald wir, schweigend und übervorsichtig, die dunklen Treppen zum ersten Stock erklommen hatten (als wären wir auf dem Weg zum Pflichtbesuch an einem Totenbett), sobald wir die Wohnung von Gabriel Delacruz Expósito (was allerdings nicht auf dem Briefkasten im Hauseingang stand) betreten hatten, gewannen wir nach und nach unsere gemeinsame Vergangenheit zurück. Wir bitten darum, hier nichts Esoterisches zu vermuten. Es war schlicht so, dass all die Gegenstände, die Gabriel aufbewahrt und die Cristòfol auf dem Tisch versammelt hatte, Erinnerungen in uns wachriefen und die Distanz zwischen uns zusammenschmelzen ließen. Wir waren wieder kleine Jungen und hatten alle vier die gleichen Anekdoten, Ticks, Wörter, Abneigungen, Empfindungen im Kopf. Nach drei Stunden fühlte es sich an, als hätten wir uns das ganze Leben lang gekannt. Jeder suchte nach alten Übereinstimmungen, in der frohen Gewissheit, dass er etwas bloß anzudeuten brauchte und sofort von den anderen verstanden wurde. Das Spiel brachte uns immer mehr zum Lachen. Da es in der Wohnung ja kein Licht gab, gingen wir bei Einbruch der Dämmerung in ein Café in der Nähe, um dort mit der Exhumierung fortzufahren. Ein Wort gab das andere. Um drei Uhr morgens vertrieb uns ein schläfriger Kellner aus der Hotelbar.
Nach diesem ersten gemeinsamen Besuch in der Wohnung im Carrer Nàpols beschlossen wir, zusammen für die ausstehenden Zahlungen unseres Vaters aufzukommen. Ein erster Schritt. Auf diese Weise wurde die Wohnung zu einer Art Vereinsheim, zu unserm Forschungsbüro. Rita, die sich immer noch weigert, einen Fuß dort hineinzusetzen, macht sich über uns lustig: Bald werde das Ganze Club dels Cristòfols heißen, »ein kleines Museum mit einem Wächter, verstaubenden Vitrinen und roten Kordelbändern, die den Zugang zu den Ehegemächern versperren«.
So weit werden wir nicht gehen. Wir sind keine Jünger unseres Vaters. Man sollte uns wohl glauben, dass es bei unserm Pakt, ihn zu suchen, mehr um unsere eigene Neugier ging als wirklich um ihn. Jederzeit könnten wir einen Katalog geteilter Verletzungen herunterbeten, mit derselben Leichtigkeit, mit der wir unsere Kindheitserinnerungen abgleichen. Und selbstverständlich ist jeder von uns vieren, ohne dass wir darüber geredet hätten, einige Male kurz davor gewesen, aus dem Projekt auszusteigen. Noch wäre es ganz leicht, so zu tun, als gäbe es Gabriel nicht mehr. Wir trainieren das ja seit Jahren.
»He’s a real nowhere man, sitting in his nowhere land …«, stimmt Chris an, als wollte er unsere Gedanken festnageln.
Was treibt uns denn an, ihn zu suchen? Vielleicht ist es der unerfüllbare Wunsch, ein Familienporträt unseres Vaters zu vervollständigen. Als wir, zum ersten Mal gemeinsam in der Wohnung, seine Hinterlassenschaften studierten, stachen uns derart viele absurde Hinweise ins Auge, dass wir sie nicht außer Acht lassen konnten. Ein Päckchen enthielt zehn nagelneue Sätze Spielkarten in Zellophanhülle. In drei
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