Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
würden – oder zumindest Spanien. Dass sie eine riesige Familie haben würden, eine wie in den Filmen mit Alberto Closas. In einem Brief von Anfang Juni, inmitten der hochfliegenden Versprechungen, die Carolina ihm abverlangte wie ein Lebenselixier, machte er sogar einen ganz konkreten Vorschlag. Er würde im Sommer mit einer Gruppe von Tagelöhnern nach Frankreich fahren, zur Weinlese. Fast zwei Monate würden sie dort bleiben, bis Ende September, und die Winzer hätten ihnen einen ordentlichen Lohn versprochen, ausgezahlt in französischen Francs. Wenn sie auch dorthin käme und sie sich treffen würden? Er könnte ihren Namen einfach mit auf die Liste der Erntehelfer setzen, und nach der Lese könnten sie noch zusammen eine Woche Urlaub machen. Zwei Monate, in denen sie jeden Tag miteinander verbrächten! Und es hieß, Südfrankreich sei sehr schön.
Carolina empfing das Angebot mit leichtem Widerstreben. Die Vorstellung lockte sie sehr, andererseits sträubte sie sich dagegen, die untröstliche Beklemmung aufzugeben, in der sie sich seit Wochen eingerichtet hatte. Das Glück gab es doch nicht wirklich, sondern bloß als Sehnsucht. Zudem zögerte ihre Mutter, als sie ihr davon erzählte, verdächtigerweise keine Sekunde, sie in dem Plan zu bestärken.
»Ich kann ihr nicht verdenken, dass sie mich loswerden wollte, am liebsten so weit weg wie möglich«, erinnerte sich Carolina. »Dieses dumme und störrische, sinnlos rebellierende Geschöpf hatte wahrscheinlich all das redlich verdient, was es dann in Frankreich erlebte.« Eine kurze nachdenkliche Pause. »Ich weiß bis heute nicht, ob mein Leben eine Strafe oder eine Belohnung gewesen ist.«
Ganz allein bestieg sie damals einen Zug nach Perpignan. Dort sollte sie der Bus voller Andalusier auflesen und zur Weinernte irgendwo ans Ufer der Rhône mitnehmen. Die Reisevorbereitungen und ein langes Telefonat mit dem Bräutigam, immer wieder unterbrochen von Leitungsstörungen und schluchzenden Lachanfällen, zerstreuten letzte Zweifel. Die Carolina, die sich an einem Samstagmorgen am Bahnhof França von ihren Eltern verabschiedete, war eine Seele auf Wachstumskurs. Neunzehn Jahre, Kilometer, Träume. Nur vier Monate später hatte die Muriel, die Bundó in einem Straßenbordell außerhalb von Lyon den Kopf verdrehte, alle Hoffnungen aufgegeben und war nur noch damit beschäftigt, in einem Niemandsland zu überleben.
»Was mir passiert war? Nun, dass die französische Luft meinen kleinen Jungen um den Verstand brachte. Wir trafen uns in Perpignan, ja. Im Bus saßen wir hinten und hielten die ganze Zeit Händchen, aber sobald wir bei der Weinlese waren, wurde alles seltsam. Es fing schon damit an, dass Frauen und Männer in zwei verschiedenen Schuppen schliefen. Die ersten drei oder vier Nächte warteten wir geduldig, bis alle anderen im Bett waren, und trafen uns dann heimlich. Beim Frühstück, für jeden gab es eine Scheibe Brot mit Öl, konnte er sich dann die Glückwünsche der Männer aus dem Dorf abholen. Mich hingegen blickten die Frauen voller Verachtung an. Und bald war die Müdigkeit stärker als wir. Wir schufteten den ganzen Tag und sahen uns nur beim Abendessen. In den Pausen suchte er zwar nach einsamen Winkeln, aber ich traute mich nicht, mich von den anderen Frauen zu entfernen. Dann sagte er mir, Barcelona habe mich verändert. Ich stritt das ab, und ohne die geringste Lust dazu, das kann ich dir versichern, begann ich meine Eltern zu verteidigen und ihren Entschluss, aus dem Dorf wegzuziehen. Er sagte, ich sei eingebildet geworden, wir stritten und gingen früh zu Bett. Jeder in seinen Schuppen. Am nächsten Morgen trafen wir uns zwischen den Weinstöcken, um uns zu versöhnen, aber unter den Augen der Aufseher konnte man kaum drei Worte wechseln. Für sie waren wir arme, halb verhungerte Spanierschweine. Sie brüllten uns auf Französisch an, und diese gutturalen Gewitter klangen für uns furchtbar bedrohlich. Heute würden sie wohl nicht mehr so brüllen. Nun, jedenfalls kam dann unser erster freier Tag, ein Sonntag. Wir hatten beschlossen, uns einen Imbiss mitzunehmen und im Fluss zu baden. Mein Engelchen war ein Langschläfer. Nachdem ich uns ein paar Sandwiches gemacht und eine ganze Weile auf ihn gewartet hatte, ging ich hinüber, um ihn zu wecken. Da war er fortgeflogen. Seine Pritsche leer, von seinem Koffer keine Spur. Einer von den Nachbarn aus dem Dorf nahm mich beiseite, und bevor er etwas sagte, drückte er mir ein ordentlich
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