Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
Gedächtnis. Und nun stochern wir, halb als Forscher, halb als Lumpensammler, ohne Hast in der Seele der Dinge herum.
Eine ganze Weile lang sind wir nun schon auf den Autobahnen Europas unterwegs. Jetzt könnte ein guter Moment sein, um anzuhalten und von Carolina – oder Muriel – zu sprechen. Ihr erster Auftritt in dieser Geschichte fällt in den November 1965, beim Umzug Nummer 73 (das können wir sicher datieren); er bezeichnet einen Wendepunkt im Verhältnis der drei Freunde zueinander, insbesondere was Bundó und Gabriel betrifft, und wir würden so weit gehen, zu sagen, dass er eine gewisse Abwärtsbewegung einleitete, wobei Abwärtsbewegung vielleicht ein zu starkes Wort ist und sie auch nicht direkt die Schuld daran trägt.
»Sie war keine Yoko Ono«, möchte Christopher klarstellen.
Als wir Petroli besuchten, gab er sich größte Mühe, uns die Beziehung zwischen Bundó und Carolina-Muriel verständlich zu machen. Er erzählte uns, wie ihre Abhängigkeit voneinander so schlimm wurde, dass sie, wenn sie nicht zusammen waren, beide die gleichen körperlichen Schmerzen erlitten (Simultanmigräne über Hunderte Kilometer Entfernung), und berichtete auch von den Plänen, die sie geschmiedet hatten und die dann – wie fast alles für uns hier Wichtige – an dem Unheil zerbrachen, von dem wir irgendwann werden berichten müssen. Dennoch verließen wir Petrolis Haus mit dem Gefühl, er hätte das Thema nur am Rande gestreift. Entweder ließ ihn sein Gedächtnis im Stich, oder die Vorsicht, die mit dem Alter kommt, verbot es ihm, gewisse Empfindungen wiederaufleben zu lassen, aus Furcht, er könnte nach so vielen Jahren einen Verrat an ihnen begehen. Das respektieren wir natürlich, doch wir trauen in diesem Fall seinen Worten nicht. Punkt. Es gibt ja auch noch die Version der Protagonistin.
Carolina lebt heute in einer unbedeutenden Stadt mitten in Frankreich. Die willkürliche Kraft, die wir Schicksal nennen, scheint endlich Frieden mit ihr geschlossen zu haben. Dass sie Mitte fünfzig ist, sieht man ihr nicht an, sie ist mit einem halbwegs wohlhabenden Herrn verheiratet und trägt einen französischen Nachnamen, was ihr erlaubt, ihre Vergangenheit als Muriel zu verbergen und zu vergessen. Wohl in einer Schublade ihres Sekretärs, unter einem Stapel Briefe und Zeitungsausschnitte, hütet sie ein paar Fotos von Bundó oder zumindest eines, das, auf dem er am besten getroffen ist. Und im Schmuckkästchen dürfte sie noch ein Paar Ohrringe aufbewahren, die er ihr bei Bagués kaufte, nachdem er es sich lange überlegt hatte, und die ihn ein Vermögen kosteten; und auch noch einen billigen Ring aus einer der Umzugsbeuten. Carolina pflegt zu diesen Gegenständen eine innige Zuneigung, gerade deshalb zwingt sie sich, die Fotos nicht zu oft zu betrachten, den Schmuck nicht zu oft anzulegen. Ab und zu aber tut sie es doch, aus einem lebenswichtigen Bedürfnis. Wenn sie allein zu Hause ist, zieht sie Bundós Foto hervor und lässt es einen Vormittag lang gut sichtbar auf dem Küchentisch liegen. Oder sie hängt sich die Ohrringe ein, obwohl sie nicht ausgeht. »Die Vergangenheit tut mir weh«, sagt sie sich dann und fühlt sich dafür schuldig. Ohne Bundó ist ihr die Vergangenheit zum Sperrgebiet geworden.
Als wir die Kisten durchsuchten, die Gabriel in seiner Wohnung im Carrer Nàpols hinterlassen hat, stießen wir auch auf ein recht neues Adressbuch. Wir blätterten darin und fanden eine Anschrift Carolinas in Frankreich. Ohne zu wissen, ob sie dort noch lebte, schickten wir einen Brief ab, in dem wir erklärten, wer wir sind und dass wir Gabriel suchen. Am Schluss fragten wir, ob wir sie treffen könnten. Ihre Antwort kam zwei Monate später, als wir schon nicht mehr damit rechneten. Sie war kurz und spröde. In einer wackligen Handschrift, als würde sie den Wörtern nicht über den Weg trauen, schrieb sie uns, sie wisse nicht, wo unser Vater sei; »wo er sich versteckt«, so drückte sie sich aus, als wäre dies das einzige mögliche Verb. Sie freue sich, dass wir vier Brüder – sie wusste, dass wir vier waren – uns endlich kennengelernt hätten, aber ein Treffen mit uns allen scheine ihr keine gute Idee. (Ihre fehlende Neugier beim Thema Gabriel erinnerte uns an die Haltung unserer Mütter. Die Zeit macht alles kaputt.) Allenfalls, so Carolina am Ende ihres Briefs, könnte sie sich einmal für anderthalb Stunden mit Christophe zusammensetzen, wenn sie in Paris sei. Und gleich dahinter, mit einem
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