Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
ohne es wirklich zu wollen. Anfangs war die eisige Distanziertheit, mit der Muriel ihre Kunden behandelte (ahnungslos, dass gerade dies sie so attraktiv machte), nur die Übersetzung von Carolinas Schüchternheit in die Sprache des Sexes. Auf so etwas stehen die Franzosen. Kurze Zeit später, als ihr das Gewerbe, für fremde Männer die Beine breit zu machen, den letzten Rest Unschuld genommen hatte, lernte sie, diese Kälte bewusst einzusetzen, um die Beine nicht zu oft breit machen zu müssen und dennoch zu kassieren. Bundós Glück – der Schritt vom Kunden zum Geliebten, also die Erfüllung des uneingestandenen Wunschs der meisten Bordellbesucher – war, dass er mit Muriel ins Bett steigen konnte, während er Carolina liebte; er sah sie als zwei unterschiedliche Personen. Wir werden hier keine intimen Details ausbreiten, denn wir kennen sie nicht, und das Ganze ist auch schon zu lange her, als dass sie uns besonders beschäftigen würden. Wohl aber lohnt es sich, den Hintergründen der Angelegenheit ein wenig nachzugehen.
Im Frühjahr 1965 entschieden sich Carolinas Eltern, dem Weiler in der Provinz Jaén, wo sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatten, den Rücken zu kehren und in einen Außenbezirk Barcelonas zu ziehen. Verwandte, die das Wagnis schon ein halbes Jahr zuvor eingegangen waren, hatten ihnen einen Brief geschickt, der Hoffnung machte. Eine Metallfabrik, so schrieben sie, suche Arbeitskräfte, und am Stadtrand würden billige, aber hübsche Häuschen gebaut. Wie ein Dorf daheim in Andalusien sehe es aus, aber nur ein paar Schritte vom Meer, zugleich im Schatten eines Berges. Als sie sich auf diese ungewisse Zukunft einließen, glaubten Carolinas Eltern tatsächlich, das entspräche ihnen eher als die staubtrockene Stille ihrer alten Heimat. Der Vater, der abends Radio zu hören pflegte und für Fantastereien anfällig war, gab sich alle Mühe, sich eine Stadt voller Autos und Menschen vorzustellen, laut und rappelig, aber die Bilder blieben blass. Stattdessen begann ihn ein sehr unangenehmes Gefühl im Magen zu zwicken: das Gefühl, wie es wäre, sich nicht getraut zu haben und seine Mutlosigkeit zu bereuen. Vor allem um dieses Zwicken loszuwerden, stellte er sich dann wirklich der Herausforderung – oder trat die Flucht nach vorn an –, indem er mit seiner Familie in die blühende Region Katalonien aufbrach.
Carolina weinte die ganze Zugfahrt nach Barcelona hindurch. Als sie angekommen waren, gelang es ihrer Mutter mit Leichtigkeit, sich in die neue Umgebung einzufügen; so sehr, dass sie den Mikrokosmos des Stadtviertels bis zu ihrem Tod kaum noch verließ. Carolinas Brüder, alle drei jünger als sie und sehr gutmütige Typen, fügten sich dem Willen des Vaters ohne jedes jugendliche Aufbegehren. Vierzehn Tage nachdem die Familie eine Mietbaracke in Can Tunis bezogen hatte, hatten sie alle schon Arbeit gefunden und durften einen Teil des Wochenlohns für sich behalten. Indessen brach Carolina weiterhin immer wieder in Tränen aus, verzweifelt wie eine Julia ohne Romeo. Sie half der Mutter im Haus und war überzeugt, die Eltern seien aus dem Dorf einzig geflüchtet, um sie von einem Bräutigam zu entfernen, den sie für einen Spinner hielten. Er trank Cuba Libre und wollte Motocrosspilot werden. Das Gefühl, ihr werde himmelschreiendes Unrecht angetan, versetzte sie in andauernd schlechte Laune. Und jeden Tag schrieb sie dem Jungen einen Brief.
»Diese Briefe waren so wirr und wahnsinnig, dass der Arme vor Angst fast gestorben sein muss«, sagte Carolina in der Pariser Brasserie zu Christophe, als sie von dieser Phase sprach, als wäre sie gar kein Teil ihres Lebens. »Ich habe vergessen, wie er hieß. Benito? Indalecio? Irgend so ein Name, der zu einem alleinstehenden Onkel passen würde. Er schrieb mir mit Bleistift, das weiß ich noch, und ich nehme an, er betete dabei die ganze Zeit, dass ich nur bloß keine Riesendummheit machen würde. Am Ende jedes meiner Briefe drohte ich ihm an, mir aus Liebeskummer die Pulsadern aufzuschneiden. Sich die Pulsadern aufschneiden, das taten in den Sechzigerjahren in Jaén nur die Verrückten und die vom Teufel Besessenen.«
Der Junge schien nach den Maßstäben seiner Zeit kein schlimmer Hallodri gewesen zu sein, denn er beantwortete die Briefe brav einmal pro Woche und sagte auf seine Weise zu allem Ja, was sie von ihm wollte. Dass er sie eines Tages aus dieser Hölle befreien würde. Dass sie zusammen ausreißen und die Welt kennenlernen
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