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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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hastigeren Strich, als würde sie es, während sie es tat, schon bereuen, nannte sie ein Datum, eine Uhrzeit und einen Ort.
    Der vereinbarte Tag kam. Mit großer Mühe gelang es Christophe, die anberaumten anderthalb Stunden Gespräch oder, besser gesagt, Monolog auf zwei Stunden auszudehnen. Es war ein Freitagmittag Anfang September, also zu jener Jahreszeit, da sich der Himmel über Paris, von klarstem Blau, aufbläht und spannt wie ein Luftballon kurz vor dem Platzen. Carolina hatte Christophe ins Gastronominus bestellt, eine der altehrwürdigen Brasserien mit Spiegeln, Holzbänken und Austernplatte, gelegen in der Avenue Gambetta, nah beim Friedhof Père Lachaise. Ganz zufällig hatten wir an diesem Wochenende unser unbedeutendes Spürnasentreffen nach Paris verlegt. Als Touristen verkleidet, mit Kameras um den Hals und einem ausgebreiteten Stadtplan als Sichtschutz, spähten wir drei anderen Christofs durch die schmierigen Fensterscheiben eines chinesischen Restaurants an der Straßenecke gegenüber. (Carolina, falls du diese Zeilen liest, kannst du uns verzeihen? Es war die Bewunderung, die uns trieb.) Obwohl wir große Lust dazu gehabt hätten, ließen wir uns nicht in der Brasserie blicken, sondern beschränkten uns darauf, die Dame aus der Ferne zu beobachten. Wir gestehen, dass wir uns wie aufgescheuchte Halbwüchsige fühlten, aber jeder behält die lüsternen Gedanken für sich, die diese Illusion von Nähe zu Carolina und die damit einhergehenden Belle-du-Jour -Reminiszenzen in ihm wachriefen. (Bundó hätte uns solche Gedankenspiele gewiss nachgesehen.) Die zwei Stunden vergingen wie ein Wimpernschlag. Als sie meinte, dass genug gesagt sei, ließ sich Carolina von Christophe, obwohl er all seine Künste aufbot, nicht mehr zum Verweilen bewegen, sondern bezahlte das Essen, gab ihm einen raschen Wangenkuss, sprang in ein niederträchtiges Taxi und entschwand Avenue-aufwärts. Wir drei anderen Christofs kamen sofort aus unserm Versteck gerannt, setzten uns an denselben Tisch, an dem eben noch sie gesessen hatte, und man hätte meinen können, wir versuchten dort winzige Duftspuren einzusaugen oder eine Flamme am Leben zu halten, die im Begriff war, endgültig zu erlöschen. Es war der reinste Fetischismus. Wir wollten von Christophe haargenau wissen, welche Worte sie gesprochen und wie bei jedem dieser Worte ihre Stimme geklungen habe.
    Bundó lernte zuerst Muriel kennen, dann nach und nach, wie jemand, der eine Frucht mit sehr dicker Haut schält, die zarte Carolina, die sich in ihrem Innern verbarg. Im November 1965 war Mademoiselle Muriel erst neunzehn Jahre alt und arbeitete noch keine zwei Monate im Bordell. Sie war groß, über ein Meter siebzig, und von festem, ebenmäßigem Wuchs – eine Maciza, um es im Jargon der spanischen Fernfahrer von damals zu sagen. Im Salon, nur mit einem Negligé bekleidet, zeigte sie kompakte, aber geschmeidige Muskulatur und die Sonnenbräune einer Tennisspielerin bei den French Open. Ihr langes blondes Haar – von einem so lebhaften Blond, dass es gefärbt wirkte – gab ihr einen nordischen Anschein, doch ihre Gesichtszüge waren unverkennbar mediterran. Irgendwann in ihrer genetischen Vorgeschichte musste es ein Festival gegeben haben. Ihr Latina-Anteil war von besonderer Anmut: die Augen dunkel, die Wangenknochen sanft und abgerundet, Nase und Mund leicht vergrößert. Doch mehr als ihre Schönheit waren es ihre Proportionen, die sie so attraktiv machten. Bei ihrer Größe, ihren langen Beinen, ihrer beträchtlichen Oberweite und ihrem kräftigen Körperbau hätte man eine eher grobschlächtige, womöglich pferdegesichtige Person erwarten können, bei ihr aber war alles Harmonie. (Christophe bestätigt in leicht prahlerischem Ton, dass diese Eleganz mehr als dreißig Jahre später kein bisschen nachgelassen hat.) Unsere Mütter, denen Bundó seinerzeit stolz ein paar Fotos von ihr zeigte, stimmen darin überein, dass sie die Ausstrahlung eines Filmstars hatte. Sarah kam sie vor wie eine noch ganz unbefangene, jungfräuliche Schauspielerin, unmittelbar bevor ein Hollywoodproduzent sie entdeckt und verdirbt. Mireille, die sie auch persönlich kennenlernte, sagt, sie hätte für das Pin-up-Poster in der Lui getaugt. Sigrun erinnerte sie an die Monica Vitti aus Antonionis Liebe 1962, die sich viel zu früh enttäuscht vom Leben abwendet.
    Dieser Lebensüberdruss war für sie ein Schutzpanzer, den nur Bundó durchdrang. Den Weg fand er auf die einzig mögliche Weise:

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