Die italienischen Momente im Leben
gesagt ist es auch bei Da Vito nicht mehr so wie früher. Wenn es heute zu laut wird, gibt es immer einen, der sich beschwert: »Seien Sie gefälligst leise, ich muss morgen früh raus zur Arbeit.«
Wenn früher (damit meine ich die Sechzigerjahre) die Nachbarn merkten, dass es in der Osteria hoch herging, wuschen sie sich, zogen sich um … und kamen herunter, um mitzufeiern. Heute sieht die Welt anders aus, es gelten andere Regeln. Ich war zwar noch klein, aber ich kann mich noch gut an die Leute erinnern, die herunterkamen, die Tische beiseiterückten, es wurde getanzt … und mein Vater und Signor Paolo bogen sich meist vor Lachen. Nachmittags saßen die alten Männer bei Da Vito, tranken und spielten Karten: Frauen ließen sich dort nicht blicken. Und wenn eine Ehefrau ihren Mann brauchte, schickte sie einKind, um ihn zu holen! Eine Frau, die sich hier drinnen aufhielt, galt als leichtfertig.
In den Bars sah man überhaupt nie Frauen. So ähnlich wie in islamischen Ländern. Heute wollen sich viele nicht mehr daran erinnern, aber das war damals wirklich noch so.
Und wenn man zum Glaser wollte, konnte es einem passieren, dass draußen ein Schild hing »Bin gleich zurück«. Also ging man einfach in die Osteria und fand ihn dort bestimmt. In aller Ruhe besprach man dann alles wegen der Glasscheibe, ließ ihm die Maße da … und er sagte: »Kommen Sie morgen wieder!« Immer mit der Ruhe. Alles lief wesentlich langsamer ab, aber es funktionierte. Sicher, es gab nur wenige Autos, und man ging meist zu Fuß. Die wenigsten Leute hatten schon einen Fernseher zu Hause. In dem Haus, wo wir wohnten, hatte Signor Prosperini, der Metzger, einen ganz neuen Grundig. So um die dreißig Leute kamen bei ihm zusammen, um La Fiera dei sogni anzusehen, eine Unterhaltungssendung, die, wie ich glaube, immer samstags abends im Zweiten Programm lief. Und er war stolz darauf. Er war ein einfacher Mann, mit einer einfachen Wohnung, aber er konnte immerhin mehr als dreißig Personen beherbergen.
Das waren eben noch andere Zeiten.
28.
ROMA – BOLOGNA
2010
Jedes Mal, wenn ich auf einem Bahnsteig des Bahnhofs Roma Termini stehe und auf den Zug warte, überfallen mich zwei gegensätzliche Gefühle: Auf der einen Seite ist da Beklommenheit, weil ich schon weiß, dass ich mit einem Haufen Leute, die aussehen, als wären sie direkt einem Film von Kusturica entsprungen, den Waggon teilen muss (schließlich kann man nicht die ganze Zeit die Kopfhörer vom iPod im Ohr haben oder mit einem Buch in der Hand dasitzen oder den Blick gedankenverloren auf den Horizont richten, besonders dann nicht, wenn man gerade durch einen Tunnel fährt), auf der anderen Seite empfinde ich kindliche Freude, weil ich weiß, dass ich gleich meinen Laptop einschalten und schreiben kann, während draußen die Landschaft an mir vorüberzieht.
~ ~ ~
Es ist der 20. Dezember, Vorweihnachtszeit. Signor Paolos Tochter Chiara hat mich zu seinem Geburtstag nach Bologna eingeladen. Ich freue mich, die Familie nach so vielen Jahren wiederzusehen und die alten Freunde meiner Eltern wieder umarmen zu können. Der Hochgeschwindigkeitszug Frecciarossa ist pünktlich losgefahren, in knapp drei Stunden werde ich den Bahnhof Bologna Centrale erreichen. Ich fahre wie üblich zweiter Klasse, der Zug ist ziemlich voll, beinahe alle Plätze sind reserviert. Mir ist ein wenig schlecht, wahrscheinlich habe ich Probleme mit dem Schwanken des Zuges. Das ist eben der Preis, den man für die Geschwindigkeit bezahlen muss, deshalb wage ich es auch nicht, mich zu beschweren. Wir sind noch keine Viertelstunde gefahren, und ein seltsamer Typ ist inzwischen schon dreimal an mir vorbeigekommen: Er wirkt nervös, vielleicht hat er ja keine Fahrkarte und versucht, durch strategische Wechsel zwischen Wagen und Toilette dem Schaffner zu entgehen. Sein heruntergekommenes Äußeres macht mich neugierig, aber er tut mir auch ein wenig leid. Der Mann ist klapperdürr, gekleidet wie ein abgebrannter Halbstarker, trägt einen Irokesenschnitt und hat Koteletten, deren Spitzen in Richtung Mund gehen. Ich sehe mich um: Die Frau mir gegenüber scheint schrecklich zu leiden wegen ihrer Lackschuhe, die am großen Zeh drücken, die Gepäcknetze quellen über von Paketen und großen Kartons mit weihnachtlichen Panettone, und irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass jemand einen gebratenen Kapaun in einer Tasche genau hinter meinem Sitz abgestellt hat, denn der Duft, der von dort aufsteigt, ist ein
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