Die italienischen Momente im Leben
einziges Loblied auf die Schöpfungen des Herrn und die Fressorgien in der Familie. Ich wäre ja bereit, mit einzustimmen, würde der Geruch meine Übelkeit nicht noch verstärken. Deshalb beschließe ich, dass ich aufstehen und an der Türe ein wenig Luft schnappen werde, sobald der Zug in Florenz hält, vorausgesetzt, die Nikotinabhängigen verpesten sie mir nicht, wenn sie in den acht Minuten Halt wie verrückt an ihren Zigaretten ziehen.
Da kommt der komische Typ schon wieder vorbei. Jetzt wirkt er selbstsicherer, richtet sich zu seinen ganzen ein Meter sechzig Größe auf und streicht sich mit den Fingern über die Koteletten. Er hat eingefallene Wangen, vielleicht hat er sich die Dinger ja wachsen lassen, um diese Kuhlen zu verstecken, der arme Kerl kann einem wirklich leidtun. Einen Augenblick lang fürchte ich,dass er sich auf die Tasche mit dem Kapaun stürzt, der immer noch so verlockend riecht, aber nein, er verschwindet in den hinteren Teil des Waggons, während der junge Mann mir gegenüber, der neben Frau »Schmerzender Zeh« sitzt, ihm ebenfalls verblüfft nachstarrt.
Was ist sonst noch zu sehen? Das übliche Ballett aus angestrengt übergeschlagenen Beinen, Knie, die aneinanderstoßen, und Ellbogen, die sich wohl oder übel auf zu schmalen Armlehnen berühren müssen, ein chaotischer Mix aus Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und sozialen Schichten, eine bunte Mischung aus verschiedenen Leben: Das ist ja gerade das Schöne am Zugfahren. Da begegnet man dem Lungenkranken, der ständig hustet, aber nie ein Taschentuch benutzt oder sich die Hand vorhält. Während Sie sich sehnlichst einen Mundschutz herbeiwünschen, fängt er an, Ihnen seine sämtlichen Krankheiten bis in die ekligsten Details zu erzählen. Wenn er mit den eigenen durch ist, macht er mit denen der Verwandten weiter. Mittlerweile sieht man im Zug auch immer mehr Nonnen. Fragen Sie mich nicht, wie das kommt, aber die Nonnen treten langsam an die Stelle der Japaner. Nein, eigentlich geht die Reihenfolge so: Die Neapolitaner haben die Japaner ersetzt und die Nonnen nun die Neapolitaner. Jedenfalls sitzen zwei von ihnen auf der anderen Seite des Ganges, sie hören Musik über die Ohrstöpsel ihrer iPods und starren aufmerksam auf die Displays ihrer Handys der neuesten Generation! Und überall Sizilianer. Die haben wie immer alles dabei und sind deshalb schwer beladen: Reiskroketten, cassata , die berühmten cannoli , Transistorradios, Auberginen, Paprika … ein wahres Schauspiel. Ach, da ist ja auch der Schläfer, der, kaum dass sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, in Tiefschlaf verfällt, normalerweise laut schnarcht, schrecklich schwitzt und vor sich hin sabbert, leider sitzt er diesmal direkt neben mir. Je stärker er schnarcht und schwitzt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sein Kopf sich zu mir herüberneigen wird. Pikiert guckt die sciura weg, wie dieMailänder eine arrogante Signora nennen, die einem mit ihren Designerklamotten zu verstehen gibt, dass man nicht so viel Geld hat wie sie und deswegen vor Neid erblassen muss. Das hindert sie aber nicht daran, jeden anzuquatschen und über banale Themen zu plaudern, schließlich kennt sie mindestens zwei VIP s persönlich und hat sämtliche Klatschzeitschriften abonniert. In einem leeren Abteil würde sie wohl selbst mit den Sitzen und den Fenstern reden. Dann haben wir noch den Mann, der genau weiß, wie spät es ist: Er ist mittleren Alters, und die Gläser seiner viereckigen Brille sind flaschenbodendick. Er sitzt allein und spricht mit niemandem, doch gelegentlich bricht er das Schweigen, um irgendeinen Unglückswurm nach der Uhrzeit zu fragen. Wenn man ihn nicht kennt, könnte man annehmen, er würde diese Frage stellen, um die Uhrzeit zu erfahren, aber in Wirklichkeit hat der Mann, der weiß, wie spät es ist, nur gefragt, um herauszufinden, ob die anderen Fahrgäste ausreichend für die Reise vorbereitet sind. Denn eigentlich weiß der Mann, der weiß, wie spät es ist, (immer) genau, wie spät es ist, und möchte sich nur versichern, dass die anderen es auch wissen. Und er berichtigt alle, die ihm antworten, weil niemand besser als er weiß, wie spät es ist. Vielleicht sieht er es als seine Mission an, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, deshalb wird Sie der Mann, der weiß, wie spät es ist, ermahnen, Ihre Uhr um die zwei oder drei Minuten vor- oder zurückzustellen, die Ihnen an der richtigen Uhrzeit fehlen, und wird später noch einmal auf Sie zurückkommen, um
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