Die italienischen Momente im Leben
sich davon zu überzeugen, ob Sie auch ja wissen, wie spät es ist. Der Mann mit dem BlackBerry trägt Blazer und Krawatte, hat das Headset seines Handys am Ohr und die Hände voller Unterlagen. Er telefoniert betont lässig, laut und endlos lange herum: »Hallo, störe ich dich? Ach, du isst gerade? Ich fasse mich auch kurz, hör mal, könntest du mir morgen, sobald du ins Büro kommst, diese Mail schicken …« Unser Mann macht es dann aber doch nie kurz, sondern langatmig und langweilig, er redet auf seinen Gesprächspartner ein, bis diesererschöpft aufgibt und alles tut, was er verlangt. Außerdem stört er und lässt den gesamten Wagen an seinen Telefonaten teilhaben. Dann haben wir noch den Raschler: ein Student, den die Prüfungsangst überfällt. Plötzlich merkt er, dass er sich nicht ausreichend vorbereitet hat, und holt bergeweise Bücher heraus, blättert nervös darin in der Hoffnung, den Inhalt durch bloßes Umschlagen der Seiten aufnehmen zu können. Je stärker er schwitzt und je mehr sich sein Herzschlag beschleunigt, desto lauter wird auch das Rascheln. Und je näher die Prüfung kommt, desto schneller blättert er. Studien haben bewiesen, dass er sieben Bücher gleichzeitig durchblättern kann, mit einer durchschnittlichen Leistung von zwanzig Seiten die Minute. Wer oder was ihn dazu bringen könnte, damit aufzuhören? Jemand, der ihm zusammenfasst, was er nicht gelernt hat. Noch ein besonderer Typus: der Platzbesetzer, der in einem vollen Zug die letzten nicht reservierten und freien Plätze gefunden hat und sie sogleich mit allem, was er findet, belegt: Koffern, Rucksäcken, Mänteln, Papieren, Jacken, Büchern, Zeitungen, Schals. Wenn man ihn fragt, ob noch ein Platz frei ist, antwortet er verlegen, er erwarte Freunde, die am nächsten Bahnhof einsteigen würden. Doch seine Freunde steigen nie am nächsten Bahnhof ein, sondern erst am vorletzten auf der Strecke, und es sind nicht etwa vier, was der Anzahl der freigehaltenen Plätze entspräche, sondern nur zwei. Der Platzbesetzer ist inzwischen eine aussterbende Spezies und setzt jedes Mal sein Leben aufs Spiel, wenn er seinem natürlichen Feind begegnet: dem kämpferischen Fahrgast. Bemerkt dieser, dass er wegen des anderen stehen muss, versucht er ihn zu vertreiben. Und meistens ist er erfolgreich damit. Der kämpferische Fahrgast beklagt sich immer und über alles, ganz gleich, ob der Zug voll ist oder leer, ob es zu warm ist oder zu kalt … Er kann stundenlang darüber jammern, dass es keine Jahreszeiten mehr gibt wie früher, dass durch den Euro alles teurer geworden ist und so weiter … Er lebt nur dafür, sich beklagen zu können und ein Opfer zumQuälen zu finden, und dabei ist es ganz egal, ob er zu Recht oder Unrecht protestiert. Er schweigt nur dann – eventuell –, wenn er das Gefühl hat, man gehe nicht auf ihn ein. Dann haben wir noch den Verspätungsrentner: Zu seiner Zeit, das wiederholt er ständig, waren die Züge immer pünktlich. Und wen noch? Die Signora mit den Einkaufstüten vom Weihnachtsshopping sitzt neben einem todmüden rumänischen Arbeiter, der junge Alternative mit dem Palästinenser-Tuch neben einem total gestylten Mädchen in seinem Alter mit zwölf Zentimeter hohen High Heels. Die Signora mit den eindeutig gefärbten roten Haaren, die immer noch in das gleiche Kreuzworträtsel vertieft ist, seit wir Rom verlassen haben. Der Rugbyspieler mit den dicken Brustmuskeln, die sich unter seinem Mannschaftstrikot abzeichnen.
Während die Frau »drei senkrecht« ausfüllt, holt der Rugbyspieler ein Päckchen Cracker aus dem Rucksack und knabbert sie, ohne beim Essen den Mund zuzumachen. Dann verschlingt er eine Banane mit dem seligen Gesichtsausdruck eines Primaten. Hin und wieder gleitet sein Blick püfend über seinen muskulösen Körper, zu den Brustmuskeln, die sein T-Shirt beinahe sprengen und unter der von der Zugfahrt erzwungenen Untätigkeit leiden; er testet sie, spannt sie an und entspannt sie zur Übung, er ist in glänzender Form und hat immer noch diesen affenartigen Ausdruck im Gesicht. Der rumänische Arbeiter ist inzwischen tief und fest eingeschlafen, sein Kopf pendelt auf dem sonnenverbrannten Stiernacken hin und her und sackt beinahe auf die Schulter der Nigerianerin, die neben ihm mit ihrer ausladenden Frisur aus schwarzen Zöpfchen sitzt, sich die Schuhe ausgezogen und ihre Füße auf dem Sitz gegenüber abgelegt hat, knapp an einem Trolley vorbei. Einen Moment lang sagt niemand ein Wort. Ein
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