Die Jaeger der Nacht
dringendsten brauche, fehlt auf dem Esstisch: Wasser. Es ist mehr als eine Nacht her, seit ich zu Hause zum letzten Mal etwas getrunken habe, und ich spüre, wie mein Körper austrocknet. Meine Zunge ist aufgequollen und trocken und fühlt sich an wie ein Wattebausch, den mir jemand in den Mund gestopft hat. Seit etwa einer Stunde bekomme ich immer wieder Schwindelanfälle. Meine Tropfschale füllt sich nach und nach mit der Blutmischung. Ich werde sie trinken, weil sie flüssig und wässrig genug ist. Jedenfalls irgendwie.
»Ich habe gehört, man hat dich in die Bibliothek gesperrt«, sagt ein Mann Mitte vierzig, der neben mir sitzt, dick und mit breiten Schultern. Er ist der Präsident der GSHBP (der Gesellschaft für den Schutz und die humane Behandlung von Pferden). Seine beträchtliche Wampe ragt knapp über die Tischkante. Meine Kennung für ihn: Fettwanst.
»Ja«, sage ich. »Echt beschissen, rauszumüssen. Ihr macht hier wahrscheinlich den ganzen Tag Riesenparty, während ich allein und zu Tode gelangweilt da draußen eingesperrt bin.«
»Sperrstunde zu Sonnenaufgang, das würde mich echt nerven«, meint Fettwanst, den Mund voller Fleisch. »Zu einem bestimmten Zeitpunkt alles stehen und liegen lassen müssen und ganz allein da draußen sein, tagsüber nur umgeben von Wüste und Sonne …«
»Du hast doch all die Bücher«, sagt Ashley June neben mir. »Was beklagst du dich? Du kannst Jagdtechniken studieren und dir einen Vorsprung verschaffen.«
Der ältere, ausgemergelte Mann, den ich am frühen Abend im Labor kennengelernt habe, kratzt sich leicht am Handgelenk, bevor er sich ein Stück Hyänenleber in den Mund schiebt. Seine Kennung: Hagermann.
»Ich habe gehört, dass die Bibliothek einem obskuren Forscher gehört hat«, meldet sich eine andere Jägerin zu Wort, »der einige ziemlich irre Theorien über Hepra entwickelt hat.« Die Frau sieht fit aus für ihr Alter – ich schätze sie auf Ende dreißig, ein gefährliches Alter, erfahren und noch gut in Form. Sie sitzt mir gegenüber und blickt beim Reden kaum von ihrem Teller auf. Sie hat pechschwarzes, hochgegeltes Haar, das ihr eckiges, blasses Kinn betont. Ihre vollen, sinnlichen Lippen leuchten von dem fast rohen Fleisch tiefrot. Wenn sie spricht, öffnen sie sich in einem schrägen Winkel, als ob sich nur eine Seite ihres Mundes zur Bewegung bequemen könnte. Es sieht aus wie ein träges Zähnefletschen. Rotlippchen , denke ich.
»Woher weißt du das?«, frage ich.
Rotlippchen schaut von ihrem Teller auf, erwidert meinen Blick und mustert mich. »Was, die Bücherei? Ich hab mich nach dir erkundigt«, sagt sie in einem schwer einzuschätzenden, kühlen Ton, »und warum man dich dort einquartiert hat. Mein Begleiter weiß alles. Und wenn man ihn erst einmal zum Reden bringt, ist er ziemlich geschwätzig. Er hat mir auch von dem fantastischen Ausblick erzählt, den du hast, bevor wir dich alle zu sehr bemitleiden.«
»Ich hab denselben Ausblick wie ihr auch. Außer dass ich da draußen in der Pampa hocke.«
»Aber du bist näher dran!«, sagt Fettwanst, wobei ihm ein Klumpen halb gekautes Kaninchen aus dem Mund fällt, der neben Rotlippchens Teller landet. Bevor Fettwanst sich rühren kann, schnappt sie sich den Brocken und steckt ihn in den Mund. Er starrt sie wütend an, ehe er sich wieder uns zuwendet. »Du bist am nächsten an der Kuppel. Am nächsten an den Hepra.«
Alle Augen richten sich auf mich.
Ich beiße hastig ein großes Stück Fleisch ab und kaue langsam und bedächtig darauf herum, um Zeit zu gewinnen. Dann kratze ich mir schnell das Handgelenk. »Und dazwischen liegt ungefähr eine Meile Tageslicht. Und nachts sind sie durch eine undurchdringliche Glaskuppel vor mir geschützt. Sie könnten genauso gut auf einem anderen Planeten sein.«
»Dieser Ort ist verflucht«, sagt Rotlippchen. »Die Bibliothek, meine ich. Irgendwann steigt es dir zu Kopf und macht dich kirre. Es ist die Nähe. Man ist so quälend dicht dran, man kann sie riechen und doch nicht erreichen. Jeder, der dort wohnt, wird früher oder später verrückt. In der Regel früher.«
»Ich habe gehört, genau so hat es den Forscher erwischt«, sagt Fettwanst. »Eines Nachts hat es ihn gepackt. Vor ein paar Monaten hat er sich im Morgengrauen nach draußen gewagt und ist direkt bis zur Kuppel gegangen. Hat sein Gesicht an das Glas gedrückt wie ein Kind ans Schaufenster eines Bonbonladens. Er hat die Zeit einfach vergessen und dann … nun ja, hallo, Sonne! «
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