Die Jaeger der Nacht
Fluch, vor allem als sie – und ihre Klassenkameraden – in die Pubertät kamen. Aufmerksamkeit, die zu vermeiden ihre Eltern sie immer wieder ermahnt hatten, rollte plötzlich mit der Wucht einer von Testosteron geschwängerten Flutwelle auf sie zu. Jungen schrieben ihr Briefe, starrten ihr hinterher, knüpften unbeholfene Gespräche mit ihr an, bewarfen sie mit Papierkügelchen und wurden Mitglieder in denselben Clubs wie sie. Mädchen erkannten den gesellschaftlichen Vorteil, mit ihr befreundet zu sein, und scharten sich um sie. Was sie auch tat, um ihre Schönheit herunterzuspielen, nichts half. Eine eckige, eigenhändig verunstaltete Frisur, eine abweisende, sarkastische Persönlichkeit, Reserviertheit, vorgetäuschtes Desinteresse an Jungen, sogar unverhohlene Dummheit – alles blieb wirkungslos. Die Aufmerksamkeit flog ihr weiter zu.
Eines Tages erkannte sie, dass ihr Ansatz vollkommen falsch war. Ihre Abwehr war zu … defensiv. Es passte nicht zu ihr, und dieses vorgetäuschte defensive Leben würde ihr irgendwann das Genick brechen, das begriff sie. Und entschied, dass Angriff die beste Verteidigung war.
Anstatt ihre Schönheit herunterzuspielen, betonte sie sie jetzt noch. Sie legte die Maske der Unterwürfigkeit und Dummheit ab und strahlte stattdessen Gelassenheit und Selbstvertrauen aus. Das fiel ihr leicht, weil sie es die meiste Zeit nicht vortäuschen musste. Vor allem jedoch verlieh es ihr Macht. Sie kontrollierte die Figuren; anstatt von den Springern, Läufern und Königinnen um sie herumgeschoben zu werden, machte sie alle zu Bauern. Sie ließ sich das Haar lang wachsen, sodass es ihre grazile Figur betonte. Sie starrte die Jungen nieder, die in ihre Richtung blickten, und verwendete die Messer, die ihr von hinten in den Rücken gestoßen werden sollten, um damit ihre Konkurrenz zu stutzen. Wenn nötig, konnte sie skrupellos sein.
Irgendwann wurde ihr klar, dass sie sich einen Freund zulegen musste. Solange sie ungebunden war, würden die Jungen sie weiter lautstark belagern. Und irgendwann würde ihr Verhalten zu viele Fragen aufwerfen.
Also krallte sie sich den Uni-Quarterback, einen widerlichen und überraschend unsicheren Studenten, der in der Öffentlichkeit mit ihr auf cool machte, privat jedoch brodelte wie Lava. Ihn umzubringen war schlussendlich leichter, als sie es sich vorgestellt hatte. Zu ihrem einmonatigen Jubiläum (Teenager können so unglaublich sentimental sein) schlug sie ein Picknick an einem abgelegenen Ort ein paar Stunden jenseits der Stadtgrenze vor. Er war Feuer und Flamme für die Idee. Sie nahmen Wein und Decken mit. Am Ziel angekommen, füllte sie ihn ab, bis er irgendwann umfiel. Sie fesselte ihn an einen Baum, der im Spätherbst schon kahl war und deswegen bei Sonnenaufgang auch keinen Schutz bieten würde. Dort ließ sie ihn bewusstlos liegen und ging nach Hause.
Sie sah ihn nie wieder. Als sie am nächsten Tag zu dem Baum zurückkehrte, hing nur noch ein Haufen Kleider über das schlaffe Seil, gebleicht von den Giftstoffen des schmelzenden Fleisches. Sie nahm die Kleidung und das Seil und verbrannte beides.
Wie bei den meisten »Verschwundenen« war das Thema tabu und wurde nur flüsternd erwähnt. Eine oberflächliche Suche wurde eingeleitet und nach nur zwölf Stunden wieder beendet; die Angelegenheit wurde als ein VBS -Fall (Verschwunden bei Sonnenlicht) abgelegt. Sie gab vor, tief erschüttert von der Tragödie zu sein, ihr Herz gebrochen durch den Verlust ihres »Seelengefährten«. Bei der Trauerfeier bekannte sie ihre unsterbliche Hingabe und Liebe zu ihm und gelobte, ihre Seele würde auf ewig mit seiner verbunden bleiben.
Damit erreichte sie alles, was sie sich erhofft hatte. Die Jungen ließen sie im Großen und Ganzen in Ruhe; die Mädchen bemitleideten sie wegen ihres tragischen Verlustes und ihr Stern stieg noch höher. Niemand stellte die Tatsache infrage, dass sie keine Dates hatte, während die anderen Mädchen aus der Runde der Begehrenswerten auf Partys Hals und Achselhöhlen an fremden Körpern rieben oder sonst wie mit Jungen zusammenkamen. Sie war eine tragische Gestalt, die Zeit und Raum brauchte. Wenn man sie ein paar Jahre in Ruhe ließ, würde sie irgendwann darüber hinwegkommen, dachten ihre Freundinnen.
Sie schmückte die falsche Legende weiter aus. Sie schloss sich der HSG (Hepra-Suchgesellschaft) an, einer Gruppe, die davon ausgeht, dass zahlreiche Hepra frei unter uns leben und die Gesellschaft unterwandert haben. Die
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