Die Jaeger der Nacht
zwischen den Tischen aus. Nach Tagen dieses Essens kann ich den Anblick fast nicht mehr ertragen. Ich rühre kaum etwas an und schiebe meine Appetitlosigkeit auf übergroße Aufgeregtheit wegen der Jagd morgen Nacht.
Während der endlosen Fleischgänge werfe ich immer wieder verstohlene Blicke zu Ashley June. Sie ist in ihrem Element und wickelt die Leute an ihrem Tisch mit ihrem Charme ein. Selbst als zum Hauptgang die fettesten Fleischportionen serviert werden, lauschen ihr noch immer alle gebannt. Die ganze Situation spielt ihr in die Hände. So hat sie ihr Leben der Täuschung immer gelebt. Angriff ist die beste Verteidigung.
Nach dem Dessert – Gebäck und Soufflés, für die mein Appetit plötzlich zurückkehrt – halten eine Handvoll hochrangiger Offizieller eine Reihe von Reden. Ich vertreibe mir die Zeit damit, Ashley June anzuschauen, die in meiner Blickrichtung sitzt. Ihre schlanken Arme fließen anmutig aus ihrem Kleid, das silbrige Licht glänzt auf ihrem Arm wie der Widerschein des Mondes in einem Fluss. Sie greift in ihr Haar, streicht es mit einer geübten Handbewegung über ihre Schulter und entblößt ihren geschmeidigen Nacken. Ich frage mich, ob sie so an mich denkt wie ich an sie: ununterbrochen, zwanghaft, hilflos.
Ich bin nicht der Einzige, der sie betrachtet. Auch der zwei Tische entfernt sitzende Hagermann starrt sie mit aufgerissenen Augen an. Er nippt mehrmals an seinem Weinglas, ohne seinen Blick von ihr zu wenden.
Als Letzter spricht der Direktor. Er hat sein Gesicht gepudert, sein Haar toupiert und seine Nägel blutrot lackiert. »Liebe, verehrte Gäste, ich hoffe, dass das Institut mit seinem makellosen Ruf heute Nacht Ihre hohen Erwartungen erfüllt hat. Die Speisen, das Dekor, die Pracht dieses Ballsaals – ich hoffe, all das ist zum Wohlgefallen solch erlesener Gäste, wie Sie es sind, ausgefallen, die sich für gewöhnlich nicht bequemen würden, zu ihrer Unterhaltung eine derart lange Reise anzutreten. Aber dies ist kein gewöhnlicher Anlass, nicht wahr? Denn morgen Nacht beginnt die Hepra-Jagd!«
Die Gäste, von denen die meisten schon ein paar Gläschen intus haben, klopfen auf die Tische und lassen ihre Gläser klirren.
»Heute Nacht ist die Nacht zur Feier unseres gütigen Souveräns und geliebten Herrschers, unter dessen Führung die Hepra-Jagd möglich wurde. Und feiern werden wir! Hemmungslos! Denn tagsüber haben wir reichlich Zeit, den Rausch der heutigen Nacht auszuschlafen!« Im ganzen Saal erhebt sich ein Kratzen von Handgelenken.
Der Direktor schwankt leicht, er hat offenbar ein paar Drinks zu viel genommen. »Nun, nur für den Fall, dass einige von Ihnen auf die Idee kommen, die Idee, hm … sagen wir, sich der Jagd ›inoffiziell‹ anzuschließen … liegt die Last, derlei Hoffnungen zu zerstreuen, auf meinen Schultern. Dieses Gebäude wird eine Stunde vor Anbruch der Dämmerung zentral verriegelt. Für die Dauer der Jagd werden Sie diese Räumlichkeiten schlicht nicht verlassen können.«
Er schwenkt theatralisch den Wein in seinem Glas und blickt zu den Quecksilberlampen auf. »Irgendwann vor der Verriegelung des Gebäudes werden die Jäger an einen geheimen Ort gebracht. Bei Anbruch der Dämmerung, so früh, wie es jeder Einzelne wagt, werden sie zur Jagd auf die Hepra in das Weite aufbrechen. Und damit«, fährt er fort und hebt die Stimme, »wird die spannendste, brillanteste, extravaganteste Hepra-Jagd aller Zeiten beginnen!«
Der Festsaal bricht in krampfartiges Zischen und Knochenknacken aus, Weingläser werden zerschmettert.
Nach der Rede beruhigen die Gäste sich und ein Streichquartett versammelt sich am Rand der Tanzfläche. Das Quartett spielt eine langsame, freie Variation eines Barockstücks in einem Arrangement des ausgehenden Jahrhunderts. Immer mehr Paare bewegen sich in Richtung Tanzfläche. Nach der Hälfte des Stückes sehe ich, wie Hagermann sich von seinem Stuhl erhebt. Den Blick auf Ashley June gerichtet, leckt er sich die Lippen und geht sabbernd auf sie zu. Ich schiebe meinen Stuhl zurück, eile ebenfalls in ihre Richtung und erreiche sie vor ihm. Sie sitzt gerade da, die Hände im Schoß, und blickt erwartungsvoll auf.
Als ich näher komme, wendet sie leicht den Kopf und sieht mich aus den Augenwinkeln an. Entdecke ich auf ihren Lippen den Hauch eines Lächelns, auf ihren Wangen für einen Moment kleine Grübchen? Ich biete ihr meinen Ellbogen an, sie fasst ihn und erhebt sich anmutig von ihrem Stuhl. Wir gehen zur
Weitere Kostenlose Bücher