Die Jaeger der Nacht
Toilette und halte Ausschau nach dem Paparazzo, doch er ist nirgends zu sehen.
»Komm mit.« Ashley June ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und flüstert mir ins Ohr. »Wir haben unserer Pflicht Genüge getan. Mittlerweile sind alle so hinüber, dass niemand merkt, wenn wir weg sind. Komm«, sagt sie und das tue ich.
Mit ihrer schlanken Gestalt bahnt sie sich einen Weg zwischen den zappelnden Schatten auf der Tanzfläche und führt mich aus dem Festsaal. Die Korridore sind leer, die Musik wird immer leiser, je weiter wir uns entfernen. Ich denke, wir gehen auf ihr Zimmer, doch wir steigen weiter die Stufen hinauf bis zum Ende der Treppe. Auf dem obersten Absatz stößt sie eine Tür auf und wir stehen unvermittelt im hellen Licht der Sterne.
»Ich war schon ein paarmal hier oben. Hierhin verirrt sich nie jemand«, sagt sie leise.
Vor uns liegt das Weite wie ein gefrorenes Meer, die Ebene ruhig und glatt. Und über uns leuchtet eine Unmenge an Sternen, die leicht schimmernd eine noch tiefere Leere erahnen lassen.
Sie führt mich zur Mitte des Daches, kleine Kiesel knirschen unter unseren Schritten. Sie bleibt stehen und sieht mich an.
Ich bin direkt hinter ihr. Als sie sich umdreht, berühren sich unsere Schultern, und sie zuckt nicht zurück. Sie ist so nah, dass ich ihren Atem auf meinen Lippen spüren kann. Als sie zu mir aufblickt, sehe ich den Widerschein der Sterne in ihren Augen, die feucht sind wie Abendtau.
»Haben deine Eltern dir eine Kennung gegeben?«, fragt sie.
Ich nicke. »Haben sie. Aber eines Tages haben sie aufgehört, sie zu benutzen.«
»Weißt du noch, wie sie lautet?«
»Gene.« Sie schweigt eine Weile, und ich sehe, wie ihre Lippen das Wort formen, als würden sie es anprobieren.
»Was ist mit dir?«
»Ich erinnere mich nicht«, antwortet sie leise. »Aber wir sollten uns sowieso nicht mit unserer Familienkennung anreden. Sonst werden wir noch unvorsichtig und nennen uns vor anderen so. Das könnte unerwünschte …«
»… Aufmerksamkeit wecken«, beende ich den Satz für sie.
Einen Moment lang können wir das Lächeln kaum unterdrücken, das sich auf unseren Gesichtern ausbreitet, als ob meine und ihre Lippen zwei Seiten desselben Mundes wären. Dann reißen wir uns zusammen und kratzen uns am Handgelenk. »Das hat mein Vater mir in einem fort gepredigt. Keine unnötige Aufmerksamkeit wecken. Ständig. Deiner vermutlich auch.«
Sie nickt und Traurigkeit überschattet ihre Züge. Gemeinsam blicken wir in das Weite hinaus, zu der in der Ferne aufragenden Kuppel. Unten hören wir eine Gruppe Partygäste, die lallend aufbrechen, vermutlich in Richtung Kuppel. Ihre Stimmen werden leiser und verstummen dann ganz.
»Hey, ich zeig dir was«, sagt Ashley June. »Kannst du diese irre Sache machen? Dafür müssen wir uns setzen.« Sie stellt ihren rechten Fuß auf die Zehenspitzen und wippt immer schneller mit dem Bein auf und ab. »Das wollte ich immer machen, wenn ich ungeduldig und rastlos wurde. Meine Eltern haben mich davor gewarnt, aber wenn ich allein bin, mache ich es immer noch. Wenn das Bein erst mal in Schwung kommt, läuft es wie auf Autopilot weiter. Guck mal, ich denk nicht mal bewusst dran, es bewegt sich von selbst.«
Ich versuche es, aber es klappt nicht.
»Du denkst zu viel«, sagt sie. »Entspann dich, denk gar nicht dran. Und mach schnellere Bewegungen.«
Beim vierten Anlauf passiert es. Das Bein fängt wie von selbst an zu wippen, ein Presslufthammer, der vor sich hin stampft. »Boah!«, rufe ich überrascht.
Sie lächelt breiter, als ich sie je habe lächeln sehen; ein kleiner Laut dringt aus ihrer Kehle.
»Das nennt man ›Lachen‹«, erkläre ich ihr.
»Ich weiß. Obwohl meine Eltern auch manchmal ›losprusten‹ dazu gesagt haben. Hast du das schon mal gehört?«
Ich schüttele den Kopf. »Bei uns hieß es nur ›lachen‹. Und oft haben wir es nicht getan. Mein Vater hat sich immer Sorgen gemacht, ich könnte mich vergessen und dann würde mir in der Öffentlichkeit ein Schnitzer unterlaufen.«
»Ja, meiner auch.«
»Jeden Morgen hat er mich daran erinnert. Tu dies nicht, tu das nicht. Kein Lachen, kein Lächeln, kein Niesen, kein Stirnrunzeln.«
»Aber damit sind wir so weit gekommen. Lebend.«
»Mag sein.« Ich sehe sie direkt an. »Mein Vater hatte so einen wirklich seltsamen Spruch. Vielleicht haben deine Eltern das auch zu dir gesagt? ›Vergiss nie, wer du bist.‹«
»›Vergiss nie, wer du bist‹? Nie gehört.«
»Mein Vater hat es
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