Die Jäger des Lichts (German Edition)
überleben.«
Er kickt einen kleinen Stein ins Wasser. »Wir folgen also einfach dem Fluss.«
»Bis wir das Land von Milch und Honig erreichen.«
»Und wie lange dauert die Reise? Ein paar Tage? Wochen? Monate? Ein Jahr?«
»Ich weiß es nicht, Jacob.«
Seine Gesichtszüge beben.
»Was ist los, Jacob?«, fragt Epap.
»Warum gehen wir nicht nach Westen?« Er sieht uns alle an. »Dorthin, wo die Zivilisation ist. Wir folgen den Gleisen. Da sind wir wenigstens sicher, dass sie irgendwo ankommen. Selbst wenn es Wochen dauern sollte, wissen wir zumindest, dass es ein Licht am Ende des Tunnels gibt. Einen Ort, wo es nachweislich Kühe und Hühner und Nahrung und Vorräte gibt. Und Menschen. Die Zivilisation eben.«
»Aber dorthin sollten wir nicht gehen«, sage ich. »Es ist nicht das Land von Milch und Honig, Obst und Sonnenschein.«
»Sagt wer?«, fragt Jacob. »Dieses seltsame Mädchen? Vielleicht irrt sie sich. Vielleicht lügt sie. Warum sollen wir ihr glauben?«
»Willst du stattdessen lieber den Älteren glauben? Entschuldige, aber sind das nicht genau dieselben Älteren, die gerade versucht haben, Sissy und mich umzubringen? Wer hat dich denn gefesselt und wollte dich gewaltsam in den Zug verfrachten?«
Jacobs Wangen laufen dunkelrot an, nicht vor Wut, sondern aus Scham. Es tut mir leid, dass ich ihn angeschrien habe. »Ich will es nur ins Gelobte Land schaffen«, sagt er und starrt verdrießlich auf seine Füße. »Wie der Forscher es uns versprochen hat. Das ist alles.«
»Und das liegt im Osten, Jacob«, sage ich leiser. »Ich bringe euch dorthin. Ich verspreche es.«
Er blickt aus feuchten Augen zu mir auf. Er nickt, nur knapp, doch in diesem Moment spüre ich, dass er mir etwas Wertvolles und Zerbrechliches anvertraut.
»Okay«, sagt Sissy. »Lasst uns weitergehen. Ich will die Holzhütte vor Anbruch der Nacht erreichen.« Und dann laufen wir wieder auf die aufgehende Sonne im Osten zu.
Der Weg ist beschwerlich. Schon nach wenigen Minuten werden wir mit Rücksicht auf Bens kurze Beine langsamer. Trotzdem wandern wir im strammen Marschtempo weiter, und er müht sich nach Kräften; sein Haar unter der Mütze ist verschwitzt, seine Wangen leuchten rosig. Nachund nach geht der mit Kiefernnadeln gepolsterte Boden des Waldes in harten Untergrund über, bis wir die letzten Bäume hinter uns gelassen haben und über den Fels des Berghangs trampeln. Meilen ununterbrochenen, sanft gewellten Granits reflektieren die sengenden, blendenden Sonnenstrahlen.
Auf der Klippe eines steilen Abhangs legen wir erneut eine Pause ein. Die Stahlseile mit den Sprossen, die wir vor ein paar Tagen zum Aufstieg benutzt haben, hängen noch an der Felswand. Es ist ein kräftezehrender Abstieg, und Sissy will sichergehen, dass wir gut ausgeruht sind, bevor wir hinunterklettern. An unsere Taschen gelehnt sitzen wir mit gespreizten Beinen auf dem harten Boden. Ein brutaler Wind fegt über die Kuppen und pfeift durch die Schluchten.
Sissy kramt ein Fernglas aus ihrer Tasche. Von unserem Standpunkt aus haben wir beinahe einen Rundumblick. Das Land ist unter uns ausgebreitet wie eine zerknüllte Decke. Links glitzert der silberne Faden des Nede-Flusses in der Sonne. Sissy richtet das Fernglas nach Osten. Falls sie hofft, am Horizont etwas auszumachen, irgendwas, das auf das Gelobte Land hinweisen könnte, sagt sie es nicht.
»Kann ich auch mal gucken?«, fragt Epap.
Sissy beachtet ihn nicht und schwenkt das Fernglas nach links.
»Wie weit ist es noch?«, fragt Ben.
»Ich würde sagen, wir haben die Hälfte geschafft«, antwortet Epap. »Also noch mal vier Stunden bis zur Hütte.Hey, Sissy, lass mich auch mal durch das Fernglas gucken, ja?«
Aber es ist, als hätte sie ihn gar nicht gehört. Sie ist komplett gebannt: Hektisch dreht sie mit dem Zeigefinger an der Schärfeneinstellung. Über dem Fernglas haben sich zwei tiefe Falten in ihre Stirn gegraben. Plötzlich erstarrt sie.
»Alles in Ordnung?«, frage ich.
Ihr aufgeklappter Mund ist mindestens so groß wie die beiden Linsen. Sie lässt das Fernglas sinken und starrt jetzt mit bloßem Auge. In ihrem Blick liegt Verwirrung, Bestürzung.
Sie erhebt sich, und wir alle springen mit ihr auf. Vielleicht hat sie eine Gruppe Älterer gesehen, die den Berghang herunterkommt. Aber sie hatte das Fernglas nicht auf die Berge gerichtet, sondern auf das Land tief unter uns.
»Unmöglich«, stammelt sie. Der Wind verweht ihre Stimme zu einem ängstlichen Flüstern.
Epap nimmt ihr
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