Die Jäger des Lichts (German Edition)
ihre Hüften. Sie zerstrubbelt die Haarsträhnen, die unter seiner Mütze hervorragen, und sieht mich an.
Ich wende den Blick ab. Der Wind bläst, und obwohl die Böen nicht kräftiger sind als zuvor, schneiden sie durch mich hindurch, als wäre ich innerlich leer, als wäre alle Substanz aus mir herausgesaugt. Ich kicke einen Stein über die Klippe.
»Das wollt ihr also?«, sage ich. »Verfolgt und gejagt werden? Euer Leben lang ihre Beute sein? Als Beute geboren, als Beute sterben?« Ich sehe sie nacheinander an. »Dies ist eure Chance, mehr zu sein als nur die Beute. Eure Chance, all dem zu entkommen. Aber stattdessen wollt ihr umkehren wie ein entlaufenes Tier, das freiwillig in den Käfig zurückgeht.«
Niemand antwortet. Die Ansammlung von Punkten auf dem Fluss wird dichter.
»Wir können frei sein!« Meine Stimme bricht, und ich weise mit beiden Armen auf den Horizont im Osten. »Dorthin müssen wir gehen! Nach Osten. Wo mein Vater ist.«
Mit einem Mal wird mir schwindelig, der Boden untermeinen Füßen schwankt. Ich beuge mich vor und warte, dass die Welt vor meinen Augen aufhört, sich zu drehen. »Tut das nicht«, sage ich, und der Wind verweht meine Stimme, bis sie alle Kraft verloren hat und kaum mehr ein Flüstern ist. »Lasst mich nicht allein.«
Eine Weile sagt niemand etwas. Sie sind vollkommen still, bis auf die im Wind flatternden Strähnen ihres zerzausten Haars wirken sie wie ein Standbild. Dann kommt David auf mich zu, zwar nur einen Schritt, doch es fühlt sich an, als hätte er die Kluft zwischen uns geschlossen.
»Komm mit uns, Gene«, sagt er. »Bitte.« Und dieses letzte Wort lässt etwas in mir aufbrechen.
Ich wende den Kopf zum östlichen Horizont. Die weite Landschaft ist öde und karg.
»Gene«, ergreift Jacob das Wort. »Komm mit uns. Du gehörst jetzt zu uns. Du bist einer von uns. So fühlt es sich wirklich an. Du passt so gut zu unserer Gruppe. Wir sind eine Familie. Wir lassen dich nicht gehen!«
Nie zuvor hat jemand um mich gefleht oder gebettelt. Ich sage nichts, sondern spüre nur eine seltsame geschmolzene Wärme, die Hohlräume in meinem Körper füllt, in denen ich bisher nur Leere gespürt habe. Ich drehe mich wieder zu ihnen um. Ben sieht mich mit großen Augen erwartungsvoll an. Er erkennt in meinem Gesicht die Entscheidung, die getroffen zu haben mir selbst kaum bewusst ist, und verzieht den Mund zu einem breiten Lächeln. Aufgeregt zupft er an Sissys Ärmel. »Er kommt! Er kommt mit uns!«
Epap nickt mir warmherzig zu. »Wir sollten aufbrechen«, sagt er. »Der Rückweg zur Mission ist ganz schön weit. Du übernimmst die Führung, Gene. Ich bilde die Nachhut, was sagst du?«
Ich sehe mich schon in ihre Mitte treten, kann ihre Hände, die mir auf die Schulter klopfen, förmlich spüren, das Licht in ihren Augen, ihre kraftvollen Schritte, wenn sie von mir angeführt zur Mission zurückwandern.
»Ich darf hinter Gene gehen!«, sagt Jacob und nimmt seinen Rucksack.
Und doch habe ich mich immer noch nicht vom Fleck gerührt.
Schließlich ist es Sissy, die nach langem Schweigen das Wort ergreift. Im Gegensatz zu den anderen klingt sie nicht aufgekratzt. »Gene.« Mehr sagt sie nicht, nur leise meinen Namen. In ihrer Stimme liegt eine unerträgliche, niederschmetternde Traurigkeit. Sie schüttelt den Kopf, als sie mich ansieht, und in dieser kleinen Geste wechseln wir tausend unausgesprochene Worte des Erkennens und Verstehens.
Die Jungen sehen sie mit fragendem Blick an.
»Sissy?«, fragt Ben. »Was ist los …?«
»Gene kommt nicht mit uns«, sagt Sissy, ohne den Blick von mir zu wenden.
»Was? Wie meinst du das?«
Ihre Stimme ist ruhig. »Sein Ziel ist der Osten. Es ist der Weg, den der Forscher für ihn vorherbestimmt hat.«
»Nein«, sagt David mit belegter Stimme. »Er ist einer von uns, er bleibt bei uns …«
»Er ist der Ursprung«, sagt sie. »Sein Weg ist ein anderer als unserer.«
»Sissy«, sagt Ben, »er will mit uns kommen und …«
»›Lasst Gene nicht sterben‹«, entgegnet sie. »Gene ist der Ursprung. Er ist die Heilung. Er muss am Leben bleiben. Er muss nach Osten wandern. Nichts ist wichtiger.«
Die Jungen werden blass. Sie sagen nichts, doch ihre aufgerissenen Augen und zitternden Lippen sind widerwilliges Eingeständnis genug.
»Er muss den Forscher finden«, fährt sie ruhig und entschlossen fort. »Es ist das, was der Forscher will, das, was er von Anfang an geplant hat. Wir dürfen nicht zulassen, dass persönliche
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