Die Jäger des Lichts (German Edition)
nicht mehr darüber reden.«
Ich denke, das ist das Ende unseres Gesprächs. Doch dann überrasche ich mich selbst, indem ich weiterspreche. Zunächst kommen die Worte stockend und unsicher über meine Lippen, erst eins, dann noch eins, dann ein Satz. Aber schließlich bricht ein Damm in mir, und Gedanken und Erinnerungen fließen aus mir heraus. Ich habe auch nicht mehr das Gefühl, die Worte herauszupressen, es ist ein Strömen, eine Katharsis, eine Beichte. Als ich mit schwächerwerdender Stimme ende, sagt sie nichts. Ich fürchte schon, dass sie eingeschlafen ist.
Doch dann flüstert sie: »Ich wünschte, ich könnte deine Hand halten.«
Schneeflocken rieseln sanft an meinem Gesicht vorbei und trudeln hinab in die Dunkelheit unter meinen Füßen.
10
Sissy hat Recht. Am nächsten Tag erreichen wir die Oberfläche, die Öffnung des Schachts ist überraschend nah.
Wir werden von dem Sonnenlicht geweckt, das den vertikalen Tunnel durchflutet, und beginnen wenige Minuten später den Aufstieg. Unsere Arme und Beine sind steif und kalt. Doch das hereinfallende Licht badet uns in Wärme und ölt unsere Gelenke. Bald haben wir die Blasen an unseren Händen und unsere blutenden Finger vergessen und konzentrieren uns nur noch darauf, die nächste Sprosse zu greifen. Bis wir wie neugeborene Säuglinge schließlich durch die Öffnung auf eine Lichtung taumeln, wo wir die frische Bergluft einsaugen und blinzelnd in die Sonne blicken.
Wir befinden uns in der Sohle eines grünen Tals. Zu allen Seiten ragen glatte Granitwände auf wie zerfurchte Finger. Über dem Tal schwebt eine Glocke aus Dunst, der aus den dunklen Wäldern strömt, die uns in alle Richtungen umgeben. Aus dem Nebel ragen Bäume wie Hüter des Hinterlands, die uns begrüßen wollen. Oder warnen.
Über allem erhebt sich der Gipfel des Berges, arrogant und überragend, das Gesicht zerfurcht und knurrig, als würde er wütend in die helle Sonne blinzeln. Oder auf uns, die wir seine breiten Schultern betreten. Auf halber Höhe des Hangs sprudelt ein Wasserfall aus einer glatten Felswand und zieht sein Wasserband Tausende von Metern in die Tiefe, wo es zu einem Dunst zerstäubt. Ein blasser Regenbogen spannt sich über der Gischt.
In dem offenen Gelände sind wir der schneidenden Kälte schutzlos ausgeliefert. Der Wind weht nur leicht, doch er kriecht unter unsere Kleidung und lässt unsere Brust gefrieren. Ich werde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt, Schleim kratzt an meiner Luftröhre wie Reißzwecken in Säure. Ich fühle meine Stirn. Sie glüht wie ein dampfendes Brandeisen. Der Boden unter meinen Füßen schwankt, Himmel und Berge drehen sich vor meinen Augen, eine Lawine nur für mich.
»In den Wald«, keuche ich, »raus aus dem Wind.«
»Warte«, sagt Sissy, kniet sich neben die Öffnung und mustert die Einfassung des Schachts.
»Was machst du?«, fragt Ben.
»Seht mal, hier«, sagt sie und zeigt auf eine Stelle, wo das Gras platt gedrückt ist. »Wer immer diesen Schacht benutzt hat, ist in diese Richtung gegangen. Ich schlage vor, das machen wir auch.«
Der Wald ist wie ein warmes Nest. Sobald wir im Schutz der ersten Bäume sind, ist der Wind fast nicht mehr zu spüren. Ein köstlicher Duft von Vanille und Karamell lässt unsere Mägen knurren. Wir stolpern eine Weile ziellos herum, ehe wir in dem Bett aus Kiefernnadeln auf dem Boden die blassen Marken eines Wegs erkennen, dem wir zunehmend aufgeregt folgen.
Nach einer Viertelstunde bleiben wir, an von Flechten überzogene Baumstämme gelehnt, stehen, um zu Atem zu kommen. Wir sind die dünne Bergluft nicht gewöhnt. Ein Eichelhäher landet auf einem Zweig hoch über uns, sein heller Kopf zuckt hin und her. Er kreischt keifend, als wollte er uns wegen unserer Trägheit tadeln. Zudem kühlen wir rasch aus, sodass wir unseren Marsch fortsetzen, diesmal jedoch in bedächtigerem Tempo. Zwanzig Minuten später bleiben wir erneut stehen.
»Der Weg ist verschwunden«, sagt Sissy und blickt sich besorgt um.
»Wir sollten einen Platz zum Übernachten suchen und Feuer machen«, sagt Epap mit klappernden Zähnen.
»Wir müssen uns beeilen«, sagt Sissy. »Mit dieser Kälte ist nicht zu spaßen.«
»Wir beide suchen Holz, Ben und Gene bleiben hier …«
»Nein«, unterbricht Sissy Epap. »Ab jetzt machen wir alles gemeinsam. Wir trennen uns nicht, nicht mal für eine Sekunde, kapiert? Dieser Wald will uns auseinanderreißen, das spüre ich.«
Wir spüren es alle. Wir laufen so dicht
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