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Die Jäger des Lichts (German Edition)

Die Jäger des Lichts (German Edition)

Titel: Die Jäger des Lichts (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Fukuda
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in meinem Kopf dreht sich alles. Trotzdem kann ich nicht aufhören, mich vollzustopfen. Haferschleim und Rührei und Speck und Brötchen. So heißen die Gerichte, die uns aufgetischt werden. Die Dorfbewohner bleiben draußen, drücken die Nasen an die Fensterscheiben und beobachten uns. Alle sind so hübsch und jung.
    Und dann fällt es mir zum ersten Mal auf. Eine Merkwürdigkeit. Fast alle Bewohner des Dorfes sind weiblich und jung.
    Ich betrachte die jugendlichen Gesichter vor den Fenstern. Kleinkinder, Kinder und Teenager, in der Mehrzahl weiblich. Es gibt nur eine kleine Gruppe von Jungen, keiner älter als sieben oder acht Jahre.
    Im Inneren des Speisesaals bietet sich das gegenteilige Bild. Statt junger Mädchen stehen etwa ein Dutzend älterer Männer am Rand des Raums aufgereiht, zwischen vierzig und sechzig, mit schütterem Haar und stattlichen Wampen. Keiner von ihnen ähnelt auch nur annähernd meinem Vater. Diese Männer sind teigig und bärtig, während mein Vater muskulös und glatt rasiert war. In der gegenüberliegenden Ecke stehen zwei besonders beleibte Männer links und rechts neben Krugman, von dem alle Fröhlichkeit gewichenzu sein scheint. Sein Mund und sein Blick sind gemessen und ernst, und er hat seine dicken Arme vor der Brust verschränkt. Er sagt etwas – nur ein oder zwei Worte – und einer der Männer an seiner Seite eilt hinaus.
    In diesem Moment fallen mir auch die Porträts auf. Ein gutes Dutzend von ihnen hängt zwischen den hohen Fenstern in handgeschnitzten Rahmen an der langen Wand, prachtvolle Ölgemälde von Männern in würdevollen Posen. Mein Blick schweift beiläufig über die Reihe, bevor ich mich wieder meinem Teller zuwende.
    Ich erstarre.
    Mit wild pochendem Herzen schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf. Niemand scheint etwas zu bemerken, weder Sissy noch die Jungen, die zu beschäftigt damit sind, das Essen hinunterzuschlingen und ihren Durst zu löschen.
    Es ist ein unendlich langsamer, unendlich langer Weg. Einen Fuß vor den anderen, den Blick fest auf ein im Schatten liegendes Porträt gerichtet. Plötzlich wird es im Speisesaal ganz still; alle beobachten mich, während ich wie in Trance auf das Porträt zusteuere.
    Ich bekomme einen Hustenanfall, aber ich gehe immer weiter, das Porträt kommt näher. In meinem fiebrigen Zustand ist mir, als würde es auf mich zu schweben. Und dabei lösen sich alle Reste von Dunkelheit um das Bild auf wie Nebelschwaden über einem Berggipfel. Ein Gesicht tritt hervor und starrt mich mit vertrauten Augen an, gütig und voller Autorität, die Wangen eingefallen, aber kraftvoll,ausgeprägte Wangenknochen in einem kantigen Gesicht, das Haar mittlerweile grau, die Krähenfüße um die Augen ausgeprägter.
    Mein Vater.
    Hinter mir höre ich schwere Schritte, die ein paar Meter entfernt stehen bleiben. »Kennst du ihn?«, fragt Krugman.
    Ich ignoriere seine Frage. »Wer ist das?«
    »Das ist der Älteste Joseph.«
    Joseph. Joseph. Ich wiederhole den Namen stumm im Kopf, als ob der Klang Erinnerung heraufbeschwören könnte. Nichts. Vor meinen Augen dreht sich alles, in meinem Kopf pocht es.
    »Wo ist er?«, fragt Sissy. Sie steht mit aschfahlem Gesicht hinter mir. In ihrem Rücken haben sich die Jungen halb vom Tisch erhoben und starren ebenfalls auf das Gemälde.
    »Woher kennt ihr ihn?«, fragt Krugman.
    Ich stelle die einzige Frage, die etwas bedeutet, die Frage, die ich mir jahrelang in ununterbrochener Stille und gnadenloser Dunkelheit immer wieder selbst gestellt habe. »Wo ist er?«
    Krugmans Stimme klingt kratzig und mürrisch. »Er ist nicht mehr bei uns.«
    »Wo ist er?« Diesmal ist es Sissy, die die Frage stellt, drängend und mit einem ängstlichen Unterton.
    Krugman wendet sich ihr langsam zu, sein riesiger Leib verschiebt sich wie ein Kontinent. »Er ist gestorben. Bei einem tragischen … Unfall«, sagt Krugman.
    Ich mache einen Schritt zurück, ohne zu merken, dass meine Füße sich bewegen. Ich spüre nicht, dass sie irgendetwas berühren.
    Ein Schmerz schießt durch meinen Kopf, als ob ein Teil meines Schädels entfernt worden wäre und ein raues, gesplittertes Stück Holz an meinem freigelegten Gehirn entlangschrammen würde. Der Raum wird plötzlich von einem hypnotisch blinkenden roten Licht erhellt. Als ich zusammenbreche, geschieht es unerträglich langsam und mit einer trägen Drehung, in der ich ihre Gesichter sehe, weiße Streifen und Monde, die in einem Universum kreisen, das leer geworden

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