Die Jäger des Lichts (German Edition)
fünfzehn Minuten weiter, bis der Wald unvermittelt endet. Wie angewurzelt bleiben wir stehen.
Vor uns erhebt sich eine mehrere Stockwerke hohe Festungsmauer aus großen Felsen, die von einem wahllosen Durcheinander aus Beton, Metallstreben und Baumstämmen zusammengehalten werden. Als die Morgensonne über die Berggipfel steigt, wird der baufällige Zustand der Festungsanlage offensichtlich. Nur ein Turm an einer Ecke der Festung scheint gut erhalten. Er ist mit glatten dunklen Stahlplatten gepanzert. Hinter einer großen Panoramascheibe brennt helles Licht. »Das ist Krugmans Büro«, sagt Clair und zeigt auf das Fenster.
Sie führt uns durch das geöffnete Tor – zwei knapp zwanzig Zentimeter dicke, drei Mann hohe Metallplatten. Nach dem Rost in den Bodenschienen zu urteilen, ist das Tor eine Weile nicht mehr geschlossen worden, möglicherweise jahrelang nicht. Clair formt die Hände um den Mund und stößt noch einmal den gleichen Jodelruf aus.
Wir treten durch das geöffnete Tor in das von den Mauern umfriedete Gelände.
»Boah«, sagt Ben leise, als hätte er Angst, eine Luftspiegelung zum Verschwinden zu bringen.
Innerhalb der Festung befindet sich eine dörfliche Siedlung. Die Morgenröte hüllt die reetgedeckten Dächer in warmes Licht. Häuser schimmern in sanften Farbtönen wie plüschige Kissen, von innen erleuchtet durch flackernde Kaminfeuer. Rauch steigt gelassen aus hohen verzierten Schornsteinen. In einem Haus in der Nähe wird ein Fenster geöffnet; ein Kopf taucht auf, zu dem sich rasch ein zweiter gesellt.
Vor uns plätschert ein Bach mit kristallklarem Wasser. Darüber spannt sich eine Kopfsteinpflasterbrücke, in die von Hand behauene Steine eingelassen sind, die im Licht der Morgenröte funkeln wie freundliche Augen.
Weitere Fenster werden geöffnet. Große und kleine Köpfe erscheinen in den Rahmen. Türen werden aufgerissen, Leiber quellen ins Freie.
Ben fasst Sissys Hand. »Sissy?«, flüstert er aufgeregt.
Sie drückt lächelnd seine Hand. »Ich glaube, jetzt wird alles gut.«
Die Leute strömen in farbenfroher Kleidung aus ihren Häusern wie bunte Goldfische. Sie kommen auf uns zu und hüpfen dabei mit glänzenden Augen auf und ab.
»Wie viele Menschen?«, fragt Epap.
»Ein paar Hundert«, antwortet Clair.
Am Fuß der Kopfsteinpflasterbrücke bleiben wir stehen, auf der anderen Seite tun die Dörfler das Gleiche. Eine Minute lang starren wir uns gegenseitig an. Ihre Gesichter sehen rundlich und gesund aus. Viele tragen noch ihre Schlafanzüge, und ihr Haar ist vom Schlaf zerwühlt. Eine rosige Wärme leuchtet auf ihren Wangen.
Ein großer Mann löst sich aus der Gruppe, sein stattlicher Bauch schwabbelt um seine Hüften. Mein Herz erstarrt – aber nur für eine Sekunde. Dieser große stämmige Mann ist nicht mein Vater. Er mustert uns, lehnt sich, die Arme in die Seiten gestemmt, zurück und lacht laut, ein herzliches Dröhnen, freudig und aus voller Kehle. Er kommt auf uns zu, seine Gestalt wirkt noch größer, als er den Bogen der Brücke betritt. Auf dem höchsten Punkt breitet er die Arme aus und lächelt uns strahlend an.
»Willkommen in der Mission«, sagt er mit tiefer und sonorer Stimme. »Wir haben euch erwartet.« Ein paar Schritte von uns entfernt bleibt er stehen, seine Präsenz ist überwältigend, Charisma tropft von ihm ab wie Regentropfen von einem Schirm. Seine große Silhouette verdeckt die aufgehende Sonne; in seinem Schatten sinkt die Temperatur um ein paar Grad. Aber nur für einen Moment, denn er verändert seine Position, als hätte er es selbst gemerkt. Er versucht zu erkennen, wer der Anführer der Gruppe ist. Sein Blick streift Epap und Sissy, bleibt an mir hängen, wandert zurück zu Epap und fixiert schließlich wieder mich. »Mein Name ist Krugman. Es ist mir eine außergewöhnliche Freude,euch kennenzulernen. Ein unbeschreiblich köstliches Entzücken!« Er streckt eine Hand aus, in der die meine verschwindet, fleischig und muskulös, doch seine Haut ist weich, glatt und feminin.
»Wollen wir?«, fragt er, tritt zur Seite und weist mit einem Arm den Weg. Die Brücke vor uns spannt sich wie ein Regenbogen, der in ein Meer aus lächelnden Gesichtern niedergeht.
Zunächst vorsichtig, dann zunehmend aufgeregter betreten wir die Brücke. Sissy und die Jungen haben ihr ganzes Leben lang in der Kuppel verbracht und sind nie zuvor einer so großen Menschenmenge begegnet. Nervös bleiben sie auf dem höchsten Punkt der Brücke stehen. Ein Hauch von
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