Die Jäger des Lichts (German Edition)
Regens auf dem Dach ist wie ein hypnotischer Trommelschlag, der mich in eine sonderbare Trägheit lullt. In der Fensterscheibe kann ich unser von einem roten Glanz eingerahmtes Spiegelbild und damit zum ersten Mal seit Tagen mein Gesicht sehen. Es kommt mir älter und kantiger vor und wird dem meines Vaters immer ähnlicher.
Eine Taubheit, die nicht zu dem Augenblick passen will, schleicht sich in meine Glieder: Angesichts der erschütternden Neuigkeiten und konfrontiert mit dem Dilemma, ob wir in den Zug steigen sollen oder nicht, müssten wir eigentlich nervös auf und ab laufen und laut und erregt diskutieren. Stattdessen hängen wir beide schlaff auf dem Sofa und dösen fast ein.
»Irgendwie führt alles zu meinem Vater zurück«, sage ich, um mich durch Reden wach zu halten. »Wenn wir herausfinden, was mit ihm geschehen ist, erfahren wir auch, wohin diese Gleise führen. Er ist der Schlüssel zu allem.«
Ich warte auf eine Antwort, doch als ich mich ihr zuwende, hängen Sissys Lider noch tiefer und ihr Kopf ist zur Seite gesackt. Sie blinzelt heftig und versucht, ein Gähnen zu unterdrücken. »Was war in dieser Suppe?« Ihre Augen glänzen feucht, und sie sinkt tiefer in das Sofa, als wollte sie mit dem Leder verschmelzen.
Keiner von uns sagt etwas. Das Feuer zischt und knackt. Ein schweres Gewicht drückt mich sanft, aber beharrlich in die Polster, und ich kann mich nur dagegenstemmen, um nicht jäh abzustürzen. Das Zimmer wird dunkel und verschwimmt vor meinen Augen, graue Wellen wogen in schwarzen Tümpeln. Ich starre auf Sissys leere und meine halb volle Suppenschüssel, ihre Ränder lösen sich auf. In meinem Kopf beginnt eine Alarmglocke zu läuten, leise und weit entfernt.
»Gene?«, murmelt Sissy leise.
»Ja?«
Sie gleitet über das glatte Leder, bis sie an mir lehnt und sich an mich schmiegt. Unsere Körper scheinen perfekt ineinanderzupassen.
»Was denn?«
Lange Zeit sagt sie nichts, bis ich schon denke, dass sie endgültig eingeschlafen ist. Aber dann erheben sich ihre gemurmelten Worte sanft wie Schmetterlingsflügel. »Verlass mich nicht, versprochen?« Und damit fallen ihre Augen zu, und ihr Kopf rutscht über die Sofalehne auf meine Schulter. Ich spüre ihre glatte, warme Stirn an meinem Hals, den Puls ihrer Halsschlagader an meinem Schlüsselbein.
Sie öffnet den Mund und atmet leise. Sie ist eingeschlafen. Ich fahre mit dem Finger behutsam über ihre Wangenknochen und die gelbbraunen Brauen und streiche die Fransen ihres Ponys aus der Stirn.
Der Widerschein des Feuers züngelt durch den Raum wie eine Brut wilder Schlangen. Sie haben die Farbe von AshleyJunes Haar: ein feuriges, eifersüchtiges, wild wirbelndes Rot, ein flammender Vorwurf, vor dem ich nur die Augen verschließen kann. Sissys Arm liegt über meiner Brust, und ich streichle ihn, vor und zurück, vor und zurück. Und jeder Strich fühlt sich an wie ein Verrat, ein Verrat, ein Verrat.
Schlaf zieht mich schnell in die Tiefe, und das ist eine Gnade.
25
Ich werde geweckt von fetten Regentropfen, die an das Fenster prasseln. Draußen ist es jetzt pechschwarz. Von dem Feuer ist nur glühende Asche geblieben, und der Raum ist kalt. Auf dem Boden liegt die zerknüllte Decke wie eine abgestreifte Haut.
Sissy ist weg.
Ich taste über den Abdruck ihres Körpers in dem Polster. Das Leder ist kalt. Ich stehe auf, und die Bodendielen ächzen im Gleichklang mit meinen schmerzenden Gliedern. Der Raum schwankt und dreht sich vor meinen Augen. Als ich zum Bad stolpere, trete ich gegen den Couchtisch und kippe die getöpferten Schalen um.
Das kalte Wasser hilft. Ich spritze mehrere Hände voll über mein Haar, sodass eiskalte Bäche über Hals, Brust und Rücken laufen, als ich den Kopf hebe. Wachheit – und Besorgnis – schneiden durch meine Benommenheit.
»Sissy!«, rufe ich den dunklen Flur hinunter und dann noch einmal lauter auf dem Weg vor der Hütte. Der strömende Regen hat alle in die Häuser getrieben, die Straßen sind menschenleer und verlassen. In dem schlammigen Boden kann man Abdrücke von Stiefeln erkennen, die so groß sind, dass sie nicht von den lotusfüßigen Mädchen aus dem Dorf stammen können. Es müssen erwachsene Männer gewesen sein, dem Anschein nach mindestens drei.
Ich folge ihrer Spur im Schlamm, doch sie endet schon bald an dem gepflasterten Weg. Ich blicke die Straße hinauf und hinunter.
»Sissy!«, rufe ich. Nur das Platschen des Regens auf dem Kopfsteinpflaster antwortet. Ich renne durch
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