Die Jäger des Lichts (German Edition)
das trübe Grau bis zum Dorfplatz, für gewöhnlich der Mittelpunkt geschäftigen Treibens, doch jetzt bar aller Bewegung, Laute und sogar Farben. Alle Lebendigkeit ist wie weggespült, die Fenster der Hütten sind verrammelt wie fest geschlossene Augen.
»Sissy!«, rufe ich noch einmal, die Hände um den Mund gelegt. »Sissy!«
Die Tür einer der Hütten schwingt auf. Eine Gestalt tritt heraus und bleibt unter dem kleinen Vordach stehen. Es ist Epap. Er hat eilig ein Hemd übergestreift und nur halb zugeknöpft. »Was ist passiert?«, fragt er und starrt mich mürrisch und wütend an. »Wo ist Sissy?«
»Sie ist verschwunden! Hilf mir, sie zu suchen!«
Es ist schwer, seine Miene zu deuten. Er mustert mich aus dem Schatten und will offenbar nicht unter dem schützenden Dach hervortreten.
»Epap?«
Er schüttelt ein-, zweimal den Kopf und blinzelt träge, bevor er wieder in der Hütte verschwindet. Offensichtlich ist er immer noch sauer auf Sissy. Ich drehe mich um, wütend und enttäuscht. Ich hatte auf mehr gehofft.
Doch dann fliegt die Tür wieder auf. Er streift einen Kapuzenpullover über und platscht eilig durch den Schlamm. Als er zu mir aufschließt, hat er die Kapuze über den Kopf gezogen.
»Erzähl mir, was passiert ist«, verlangt er mit besorgtem Blick.
»Sie hat die Älteren provoziert, und jetzt haben sie sie irgendwohin gebracht.«
Er sieht mich fragend an. »Das ist verrückt. Wie kommst du darauf?«
»Die haben uns irgendwas in die Suppe getan und sie betäubt. Ich habe weniger davon gegessen als sie. Sag mal, willst du mich jetzt mit Fragen löchern oder mir helfen, sie zu finden? Ich glaube, sie ist ernsthaft in Gefahr.«
»Neigst du sonst auch zu Überreaktionen?«, faucht er kopfschüttelnd zurück. »Sie sind immer nur gut zu uns gewesen. Warum machst du dich nicht einfach locker und vergisst deinen Verfolgungswahn?« Er zieht einen Mundwinkel herunter. »Du denkst, bloß weil Sissy nicht bei dir ist, muss sie zwangsläufig entführt worden sein? Könnte es nicht sein, dass sie einfach nicht mit dir zusammen sein will?« Er streckt schnaubend den Arm in den strömendenRegen. » Dafür hast du mich in dieses Sauwetter rausgelockt?«
Ich habe weder Zeit für Erklärungen noch für Drama. Ich mache einfach auf dem Absatz kehrt und überlege, in welche Richtung ich losrennen soll.
Epap packt meinen Ellbogen. Ich fahre herum und will mich losreißen, doch der Ausdruck in seinen Augen hält mich zurück. »Warte«, sagt er und seufzt genervt. »Glaubst du wirklich, dass irgendwas nicht stimmt?«
Ich nicke.
»Woher weißt du das?«
»Epap, bist du dabei oder nicht? Ich werde keine Zeit mit Erklärungen verschwenden.«
Irgendwas in ihm gibt nach. »Finden wir sie«, sagt er.
Und als ich loslaufe, ist er neben mir, unsere Beine bewegen sich im Takt, Schlamm spritzt um unsere Füße.
Aber die leeren Straßen und verdunkelten Hütten bieten keinerlei Anhaltspunkt. »Wo sind denn alle?«, keucht Epap, als wir stehen bleiben. Er lehnt sich an eine Hütte, beugt sich vornüber und stützt sich auf die Knie.
»Komm«, sage ich, ebenfalls außer Atem. »Lass uns weitersuchen.«
Er nickt und stößt sich von der Wand ab. »Warte«, sagt er und weist mit dem Kinn nach rechts.
Ein Dorfmädchen mit einer Kapuze auf dem Kopf tritt eilig aus einer Hütte. Sie blickt die leere Straße hinunter undkommt dann, so schnell es ihre verkrüppelten Füße erlauben, auf uns zugewatschelt.
Epap und ich sehen uns an und laufen ihr entgegen. Sie bleibt stehen und blickt nervös die Straße hinunter, während sie wartet, bis wir sie erreicht haben. Sie packt meinen Arm und zieht mich in eine enge Gasse. Dabei verhakt sich ihr Ärmel an meinem und rutscht hoch. Auf dem Unterarm hat sie vier Brandmale. Sie zieht die Kapuze vom Kopf. Es ist das Mädchen mit den Sommersprossen.
»Es ist zu spät«, flüstert sie. »Geht schnell zurück in eure Hütten.«
»Wo ist sie?«, will ich wissen. »Wohin haben sie sie gebracht?«
»Es ist vorbei. Ihr habt nichts zu gewinnen, wenn ihr sie sucht. Aber eine Menge zu verlieren. Zu eurem – und ihrem – Besten: Kehrt um.«
»Geht es ihr gut? Ist sie verletzt?«, fragt Epap und macht einen Schritt nach vorn.
»Sie wird zur angemessenen Zeit zu euch zurückgebracht werden.«
Ich packe den Arm des Mädchens sanft, aber fest. Sie ist dünn, die Knochen unter der dünnen Fettschicht sind hart und starr. Sie sieht mich mit wachem Blick an. »Du bist gekommen, um uns zu
Weitere Kostenlose Bücher