Die Jäger des Lichts (German Edition)
einen allgemeinen Heiterkeitsausbruch zu einem Wiehern steigert, dass es mir kalt den Rücken hinunterläuft.
»Geh weiter«, flüstere ich Sissy zu, »geh einfach immer weiter.«
Die Straßen um den Dorfplatz sind verlassen, keine Menschenseele ist in Sicht. Sogar die Läden der Hütten sind fest geschlossen, die Türen verriegelt. Aus der Ferne hallt vom Bahnhof das Echo von Männergelächter herüber und verfolgt uns bis zu unserer Hütte.
32
Um unsere gepackten Taschen gekauert warten wir auf das Morgengrauen, bereit, im ersten Licht zu fliehen. Sissy, Epap und ich haben einen Plan entworfen: Wir werden den Bahngleisen folgen. Zu Fuß. Der Marsch könnte mehrere Wochen, wenn nicht Monate dauern, aber wir werden zumindest frei und nicht in einen Eisenbahnwaggon eingesperrt sein. Wir können Nahrung sammeln und jagen. Und wenn wir dem Ziel nahe genug gekommen sind, werden wir es von Weitem beobachten und entscheiden, ob wir weitergehen oder nicht. Es ist diese Chance, unser eigenes Schicksal selbst zu bestimmen, die uns an den Plan glauben lässt.
Sissy will sofort aufbrechen, aber das kann ich ihr ausreden. Im Wald ist es jetzt noch so dunkel, dass wir unsichtbaren Gefahren schutzlos ausgeliefert wären. Es ist besser zu warten, bis es hell ist. Die Brücke können wir ohnehin erst überqueren, wenn sie morgen heruntergelassen wird. Am besten warten wir im Warmen, sparen unsere Kräfte und schlafen, wenn möglich, ein wenig.
Wir starren ins Feuer. Ben klagt über Durst. Sissy und Epap schleichen sich mit einem Krug zum Fluss und kommen mit genug Wasser für alle zurück. Niemand ist unterwegs, alles ist still, sagen sie. Die Nacht verdichtet sich bedrohlich. Im ganzen Dorf brennt kein einziges Licht, nicht einmal ein grünliches Leuchten oder dass Flackern einer Kerze.
Erschöpfung senkt sich über uns und macht uns schläfrig. Wir beschließen, abwechselnd jeweils eine Stunde Wache zu halten. Beim ersten Anzeichen von Ärger werden wir gemeinsam fliehen. Weil ich von den Erlebnissen am Bahnhof noch aufgekratzt bin, melde ich mich freiwillig für die erste Schicht. Es wird noch Stunden dauern, bis ich einschlafen kann.
Ich sitze allein da, die Hütte ist still. Minuten verstreichen; mir ist, als würde ich leises Schnarchen hören. Die Fensterscheibe beschlägt von meinem Atem, klart wieder auf und beschlägt erneut, ein vergängliches Phantom.
Erst dringt der Gesang nur leise und bruchstückhaft an mein Ohr. Zunächst denke ich, es ist einer der Jungen oben, doch die Stimme wird kräftiger, der Text wird verständlich, und ich begreife, dass der Gesang nicht von oben, sondern von draußen kommt.
Ich beuge mich vor und spähe durch die mit Raureif bedeckte Scheibe. Draußen ist es so finster, dass ich nichts erkennen kann. Ich stoße das Fenster einen Spalt auf, und die Stimme wird deutlicher. Hier in der Mission ist Gesangnichts Ungewöhnliches, aber irgendwas daran ist eindeutig anders.
Zum einen ist es eine einzelne Stimme, reduziert, beinahe nackt im Vergleich zu dem üblichen Chorgesang. Und da ist noch etwas. In der Stimme klingt nicht die übliche muntere Ausgelassenheit, sondern eine tief sitzende Traurigkeit mit, dem Text fehlt der gewohnte zuckrige Optimismus.
Herr und Gott der Kraft
Schütz und erhalte mich in dieser Nacht
Herr, Gott der Macht
In dieser und in jeder Nacht
Mein Atem geht schneller. Ich kenne dieses Lied.
Es ist ein Schlaflied, das meine Mutter mir immer vorgesungen hat.
Die Stimme ist natürlich völlig daneben. Die Stimme meiner Mutter – das Einzige, woran ich mich erinnern kann – war sanft und melodisch, während diese scheppert wie eine Eisenkette. Aber die Melodie ist genau dieselbe. Sogar der Text, den ich eigentlich gar nicht kenne, fügt sich wie ein Schlüssel in ein vergessenes Schloss.
Ich renne in die kalte Nacht hinaus. Der Gesang bricht ab, aber vorher sehe ich noch einen grauen Umriss davonhuschen. Ich laufe ihm nach.
Er ist flink. Es muss ein Er sein, weil die Mädchen ausdem Dorf mit ihren Lotusfüßen nicht annähernd so schnell laufen könnten. »Hey, du! Warte!«, rufe ich.
Er sieht sich nicht um und wird auch nicht langsamer, sondern eher noch schneller, bevor er plötzlich hinter einer Hütte verschwindet. Als ich sie erreiche, ist er nirgends zu sehen. Um mich herum sind nur stille dunkle Hütten. Aber dann sehe ich seine schmale Gestalt in Richtung Festungsmauer über die Weiden huschen. Weißes Haar leuchtet in der Dunkelheit. Jetzt
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