Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jaegerin

Die Jaegerin

Titel: Die Jaegerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
Vom Netzwerk:
blieben, der in der hinteren Ecke des Schankraums kniete. Jetzt hob er den Kopf. Messerscharfe Eckzähne blitzten im Kerzenschein auf. Seine Hände waren zu Klauen verkrümmt. Doch es war der Anblick seiner Augen, der Alexandra durch und durch ging. Niemals zuvor hatte sie derart durchdringende blaue Augen gesehen. Sein Blick strahlte eine eisige Kälte aus, die sich in ihre Knochen fraß. Er beugte sich über einen bleichen Körper , der zuckend in seinen Armen hing. Alexandra entfuhr ein Keuchen. Ihre Mutter war noch am Leben. Schwach versuchte sie sich gegen den Mann zu wehren, der sich über sie beugte. Alexandra hörte ihr gequältes Stöhnen und wollte ihr zu Hilfe eilen. Da griff sein Blick nach ihr. Etwas in seinen Augen hielt sie gefangen. Etwas, was nicht zuließ, dass sie einen Schritt tat oder auch nur eine Hand bewegte. Gelähmt stand sie da, gezwungen mit anzusehen, wie ihrer Mutter die letzten rasselnden Atemzüge aus den Lungen krochen. Dann erschlaffte ihr Leib in seinen Armen. Seine Augen fixierten Alexandra noch immer, als er den Leichnam langsam zu Boden gleiten ließ und sich erhob. Ihre zitternden Hände vermochten nicht länger die Kerze zu halten. Sie fiel auf die Dielen und erlosch. Alexandra begann zu schreien. Ein Luftzug fuhr über sie hinweg. Er war neben ihr! Jeden Augenblick würde er sie packen und töten. Sie wünschte sich sogar, dass er es tat! Dann jedoch bemerkte sie, dass es lediglich der Wind war, der durch die offene Tür in den Raum fuhr. Kurz darauf wehte das Wiehern von Pferden, untermalt vom Rattern einer Kutsche an ihr Ohr. Erst jetzt vermochte Alexandra sich wieder zu bewegen. Ihre Beine gaben nach. Schluchzend sank sie auf die Knie.
     
    Mit einem Schrei schreckte Alexandra aus dem Schlaf. Für die Dauer einiger beängstigend langer Atemzüge war sie wieder das zitternde dreizehnjährige Mädchen, das den Tod ihrer Familie nicht hatte verhindern können. Nur langsam gelang es ihr, den Anblick dieser grausamen Augen zu verdrängen. Sie kauerte noch immer vor der Wand, wo sie zusammengesunken war, als der Unendliche ihr Zimmer verlassen hatte. Warum hat er mich nicht umgebracht? Seine Berührung war kühl gewesen, doch die durchdringende Kälte hatte gefehlt. Etwas in seinem Blick war anders als damals. Dennoch erklärte das nicht, warum sie noch lebte. Riskieren Sie nicht Ihr Leben. Mit fahrigen Bewegungen über ihr Gesicht versuchte sie die Erinnerungen abzuschütteln. Es wollte ihr jetzt ebenso wenig gelingen, wie es ihr während der vergangenen zehn Jahre gelungen war.
    Mit dem Tod ihrer Mutter hatte das Grauen noch lange kein Ende gefunden. Alexandra hatte zitternd und weinend auf dem Boden gelegen, die Augen geschlossen, um dem entsetzlichen Anblick des Schlachthauses zu entgehen, zu dem ihr Heim geworden war. Sie war zusammengeschreckt, als sie plötzlich jemand an der Schulter berührte. Ein Lichtschimmer tanzte vor ihren geschlossenen Lidern. Sie weigerte sich noch immer die Augen zu öffnen. Da spürte sie, wie sie hochgehoben und nach draußen getragen wurde. Kühler Nachtwind fuhr über ihren erstarrten Körper und ließ sie noch mehr schaudern. Dann wurde sie sanft auf die Beine gestellt und fand sich einen Augenblick später in einer festen, verzweifelten Umarmung wieder.
    »Ich bin so froh, dass du lebst«, vernahm sie die bebende Stimme ihres Bruders. Viktor! Er hatte auf den Stufen gelegen, sodass sie ihn ebenfalls tot wähnte. Nun öffnete sie doch die Augen. Er blutete aus zahlreichen Verletzungen, aber er war am Leben! Ein Schlag dieser grässlichen Klauen hatte ihm wohl das Bewusstsein geraubt. »Er muss mich für tot gehalten haben«, vermutete er. »Bei Gott, Alexandra, das war der Mann aus der Kutsche heute Abend!«
    Alexandra erinnerte sich an die Kutsche. Eine Gruppe Reisender, die sich auf dem Weg von Bukarest nach Wien befunden und in der Schenke ihrer Eltern eine Unterkunft für die Nacht gesucht hatte. Die Männer, die das Gefährt zu Pferde begleiteten, waren am Abend in der Schankstube gewesen. Sie hatten gegessen, getrunken und gelacht. Nur der Mann aus der Kutsche hatte sich sofort auf sein Zimmer zurückgezogen, ohne dass ihn jemand zu Gesicht bekommen hatte. Für Alexandra bestand kein Zweifel daran, dass es der Mann mit den blauen Augen gewesen war. Jetzt jedoch waren sie alle fort.
    Viktor hatte Alexandra zu den Nachbarn gebracht, wo sie unterkamen. Während der folgenden Tage war er ungewöhnlich still und zurückgezogen gewesen.

Weitere Kostenlose Bücher