Die Jaegerin
Zweifelsohne hatte auch er seine Schwierigkeiten, das Grauen zu verarbeiten, das ihnen in jener Nacht die Eltern genommen hatte. Doch Viktor ging ihr mehr und mehr aus dem Weg. Seine Zurückweisung brachte sie beinahe um den Verstand. Er war alles, was ihr geblieben war! Sie brauchte seine Nähe und seinen Trost! Wie konnte er sie ausgerechnet jetzt allein lassen! Nicht einmal zur Beerdigung der Eltern war er gekommen!
Während Alexandra sich in der Obhut der Nachbarn befand, zog es Viktor immer wieder in die Schenke zurück. Alexandra wollte ihn begleiten, doch er verbot ihr ihm zu folgen. Mit jedem Wort stieß er sie weiter von sich. Einige Tage ließ sie es geschehen. Dann entschied sie, dass sie ihn nicht auch noch verlieren wollte. Sie vermisste und brauchte ihn! Sein Verbot ignorierend folgte sie ihm zum Gasthaus. Jemand hatte die Fenster mit Brettern vernagelt, um von außen den Blick auf das Grauen zu verwehren. Ein deutliches Zeichen, dass dies nicht länger ein Ort der Wärme und Gastlichkeit war. Es fiel ihr schwer, das Haus auch nur anzusehen. Mit jedem Schritt, den sie näher kam, wurden die Erinnerungen lebendiger. Wenn sie an den Tod ihrer Eltern dachte, sah sie nicht ihre grausam zugerichteten Leiber vor sich. Stets war es ein Paar eiskalter blauer Augen, das sich in ihren Verstand bohrte und sie beinahe lähmte.
Lange Zeit stand sie in der Tür und starrte in die Schankstube, ehe sie endlich den Mut fand, über die Schwelle zu treten. Die Schatten dämpften den Anblick des längst getrockneten Blutes. Die Dunkelheit mochte gnädig zu ihren Augen sein, den Geruch von Tod und Verderben vermochte sie nicht zu verschleiern. Er war so übermächtig, dass Alexandra übel wurde. Sie schlug eine Hand vor Mund und Nase.
»Ich habe dir gesagt, du sollst dich von hier fernhalten«, drang Viktors Stimme durch das Halbdunkel. Alexandra sah sich um und fand ihn in einer Ecke. Er saß auf einer Bank und starrte ihr entgegen. Seine Augen schimmerten hell im Zwielicht. »Warum hast du nicht auf mich gehört?«
»Ich brauche dich.«
»Nein, das tust du nicht.« Er stand auf. »Verlass dieses Haus! Kehre all dem Tod und Grauen den Rücken und komm nie wieder hierher zurück!«
»Viktor, komm mit mir. Bitte.«
»Verschwinde!«, schrie er so überraschend, dass Alexandra erschrocken zusammenfuhr.
»Aber –«
»Komm nie wieder in meine Nähe!«, fuhr er sie an und machte einen Schritt auf sie zu, ehe er erneut innehielt. »Ich will dich nicht mehr sehen! Du erinnerst mich jeden Tag daran, was unseren Eltern zugestoßen ist! Ich hasse dich!«
Seine Worte fuhren wie eine Klinge in ihr Herz. »Das kannst du doch nicht wirklich meinen«, keuchte sie atemlos. »Viktor …« Wenn er sie wirklich hasste, sollte er es ihr noch einmal sagen und ihr dabei in die Augen sehen. Solange er das nicht tat, weigerte sie sich, ihm zu glauben. Ihre Knie zitterten. Mit jedem Schritt, den sie sich weiter von der Tür entfernte, wurden die Gerüche und Erinnerungen schlimmer. Sie glaubte wieder barfuß zu sein und das klebrige Blut an ihren Fußsohlen zu spüren. Dennoch hielt sie nicht inne. Wenn sie es täte, würde sie auch noch Viktor verlieren. Das könnte sie nicht ertragen.
»Hau ab!«, brüllte er, doch Alexandra ließ sich jetzt nicht mehr beirren. Schritt um Schritt kam sie näher, bis er schließlich nicht länger versuchte sie davon abzubringen. Er stand einfach nur da und wartete. Als sie nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt war, richtete sich ihr Blick auf seine Augen. Das Grün darin war verschwunden. Aus farblosen Pupillen starrte er sie an. Der Anblick ließ sie zurückzucken. Da packte er sie und zwang sie innezuhalten.
»Ich habe versucht dich zu warnen«, sagte er ruhig. »Aber du wolltest nicht auf mich hören. Deine Liebe bringt dir nichts als Verderben.« Plötzlich verzog er die Lippen zu einem Lächeln und entblößte dabei lange, spitze Eckzähne. »Der Unendliche versprach mir, er würde dich am Leben lassen. Dein Blut ist sein Geschenk an mich.« Viktor verstärkte seinen Griff. Alexandra versuchte sich loszureißen, doch er war um ein Vielfaches stärker als sie. Sie wand sich in seinen Armen und flehte ihn weinend an, sie loszulassen. Viktor lachte nur. Er zog sie fest an sich und schlang einen Arm um ihre Taille, sodass sie sich kaum mehr bewegen konnte. Noch immer kämpfte sie gegen ihn an, wehrte sich gegen seinen unerbittlichen Griff und gegen die Erkenntnis, dass er nicht länger der
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