Die Jaegerin
stand – ein dicker, unförmiger Wachsklumpen auf einem flachen Tonteller. Im selben Augenblick, in dem der Docht Feuer fing, erhob er sich. Ein schwarzer Dreispitz hüllte sein Gesicht in Schatten. Behände zog er den Hut und warf ihn neben der Kerze auf die Kiste. Seine blauen Augen richteten sich auf Alexandra.
»Bei allen Heiligen!« Sie fuhr zurück, bis sie gegen die Wand stieß. Ihr Blick streifte über seine kantigen Züge, das halblange schwarze Haar, die dichten dunklen Brauen und die auffallenden Augen. Deshalb war ihr seine Stimme so vertraut vorgekommen! Wie ist das möglich? Wie kommt er hierher?
»Sie sind ja doch verletzt«, stellte er mit einem Blick auf ihre Schläfe fest. Dann runzelte er die Stirn. »Warum sehen Sie mich so entsetzt an?«
Seine Frage zog ihr beinahe den Boden unter den Füßen weg. Sie sind der Unendliche! , wollte sie ihm entgegenschreien. Der einzige unbesiegbare Vampyr dieser Welt! Der Keim allen Übels! Und ich habe nicht einmal eine Waffe! Deshalb sehe ich Sie so an! Nichts davon wollte ihr über die Lippen kommen. »Warum ich …?«, krächzte sie stattdessen, nicht in der Lage, mehr zu sagen. Ihr Blick zuckte zur Tür. Er hatte tatsächlich einen Riegel vorgelegt. Aber nicht, um – wie sie geglaubt hatte – ihre Verfolger draußen, sondern um Alexandra drinzuhalten!
Plötzlich stand er vor ihr. Ein Schauder strich ihr mit eisiger Hand über den Nacken. Als er nach ihren Schultern griff, zuckte sie zusammen. »Sehen Sie mich an, Alexandra«, verlangte er ruhig, und als sie es tat, sagte er: »Sie glauben, ich wäre er, nicht wahr?« Alexandra gab keine Antwort. Natürlich war er es! Was sollte sie auch sonst glauben? Er kannte sogar ihren Namen! Doch ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. »Mein Name ist Lucian Mondragon. Andrej, den Sie vermutlich als den Unendlichen kennen, ist mein Zwillingsbruder.« Vorsichtig legte er ihr eine Hand unters Kinn, drehte ihren Kopf zur Seite und betrachtete die Wunde an ihrer Schläfe. »Haben Sie Schmerzen?«
Obwohl ihr Schädel immer noch hämmerte, schüttelte sie den Kopf. Sie war zu sehr damit beschäftigt, seine Eröffnung zu verdauen. Der Unendliche hatte einen Bruder. Einen Zwillings bruder. Dann war es auch Lucian gewesen, der sie vergangene Nacht in ihrer Unterkunft aufgesucht hatte!
»Warum haben Sie mir nicht schon gestern gesagt, dass sie nicht der Unendliche sind?«, presste sie endlich hervor. Sie war ganz und gar nicht davon überzeugt, dass der Zwilling weniger gefährlich war als die Kreatur, die ihre Familie abgeschlachtet hatte. Deshalb konnte sie nur versuchen Zeit zu gewinnen. Jeder gewonnene Augenblick war ein Schritt, der sie einer Gelegenheit zur Flucht womöglich näher brachte.
»Wie sollte ich denn ahnen, dass Sie mich für meinen Bruder halten?«, gab er zurück. »Ich konnte kaum damit rechnen, dass Sie wissen, wie er aussieht. Die wenigsten, die das wissen, sind noch am Leben.« Er runzelte die Stirn. »Wann sind Sie ihm begegnet?«
Alexandras Mund wurde trocken. Er war ein Fremder! Ein Monster wie sein Bruder! Sie war sich nicht einmal sicher, ob er die Wahrheit sagte und der Unendliche tatsächlich einen Zwillingsbruder hatte. Vielleicht war das alles nichts weiter als ein perfides Spiel des Unendlichen! Für Alexandra stand nur eines zweifelsfrei fest: Sie blickte in das Gesicht der Bestie, die ihre Familie ausgelöscht hatte! Und noch immer lag seine Hand auf ihrer Schulter. Mit einem Ruck streifte sie seine Finger ab und trat einen Schritt zurück.
Lucian blieb stehen. »Was hat er getan?«
Sie suchte nach der Verschlagenheit in seinem Blick oder einer Veränderung in seinen Zügen. Irgendetwas, was ihr verriet, ob er nun der Unendliche war, der lediglich Interesse heuchelte, oder ob es diesen Zwilling, der angeblich von nichts wusste, tatsächlich gab. Da war nichts. Wenn er ihr etwas vormachte, war sein Schauspiel perfekt. »Er ist der Mörder meiner Familie«, sagte sie schließlich beinahe tonlos.
Die Betroffenheit, die sie daraufhin in Lucian Mondragons Augen fand, schien echt zu sein. Er streckte die Hand nach ihr aus, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. »Kommen Sie«, sagte er stattdessen, »setzen Sie sich.«
»Nein!« Alexandras Blick zuckte zur Tür. Der bloße Gedanke, etwas von ihrer Bewegungsfreiheit aufzugeben und sich so womöglich um eine Fluchtmöglichkeit zu bringen, war erschreckend.
Lucian bemerkte ihren Blick. »Sie können hier nicht raus. Nicht, solange Andrej im
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