Die Jaegerin
Daeron selbst aus gut zwei Metern Entfernung verlockend in die Nase stieg, schien ihm nichts auszumachen. Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken, schob ihr Haar zur Seite und tastete nach ihrem Puls. Eine Weile ruhten seine Finger an ihrem Hals, während er sie angespannt musterte. Dann schloss er erleichtert die Augen. »Gott sei Dank, sie lebt!«
*
Nur langsam wich die Eiseskälte, die ihren Körper gefangen gehalten hatte, aus ihren Gliedern und machte einem rasenden Hämmern hinter ihrer Schläfe Platz. Sie glaubte nicht mehr den harten Boden, sondern weiche Kissen unter sich zu spüren. Stöhnend und ein wenig verwundert darüber, dass sie noch am Leben war, schlug Alexandra die Augen auf. Über ihr schwebte ein verschwommenes Gesicht und blickte auf sie herab. Blinzelnd versuchte sie den Schleier zu vertreiben, der ihr die Sicht nahm. Dann erkannte sie ihn: Der Unendliche! Deshalb hatte die Ushana sie am Leben gelassen – damit er es zu Ende bringen konnte! Alexandra fuhr auf. Sofort griff er nach ihren Armen und hielt sie fest.
»Ich bin es nur. Lucian.«
Aus zusammengekniffenen Augen musterte sie seine Züge, suchte darin nach der grausamen Kälte des Unendlichen, ohne sie zu finden. »Lucian«, wiederholte sie leise und entspannte sich ein wenig.
»Würde mir jetzt endlich jemand erklären, was hier vor sich geht?«, vernahm sie Daerons zornige Stimme hinter Lucian.
Lucians Blick ruhte noch immer auf Alexandra. »Sind Sie verletzt?«
Sie hatte grauenvolle Kopfschmerzen und fühlte sich, als wäre sie von einem Fuhrwerk überrollt worden. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Die Ushana war hier«, sagte sie an Daeron gewandt.
»Was?«
»Sie war es, die mich angegriffen hat.« Alexandra verstand noch immer nicht, wie es der Ushana gelungen war, ihr hierherzufolgen. Warum habe ich sie nicht bemerkt! Sie machte sich große Vorwürfe, dass ausgerechnet sie den Feind hierhergeführt hatte. Das war unverzeihlich. »Wir müssen so schnell wie möglich einen neuen Unterschlupf finden, bevor der Unendliche weitere seiner Handlanger schickt!«
Daeron nickte. »Packen wir zusammen!«
»Warten Sie!«, mischte Lucian sich ein. »Ich denke nicht, dass die Ushana dieses Haus an den Unendlichen verraten wird. Sie spielt ihr eigenes Spielchen. Aber wir haben ein anderes Problem.«
»Wir?« Daerons Blick bohrte sich in Lucian, als versuche er die Gefahr abzuschätzen, die von ihm ausging. Alexandra war davon überzeugt, dass er, hätte er eine Waffe zur Hand gehabt, sie in diesem Moment gezogen hätte. »Wer, zum Teufel, sind Sie, dass Sie darüber Bescheid zu wissen glauben?«
»Für lange Erklärungen haben wir keine Zeit«, erwiderte Lucian kopfschüttelnd. »Sie müssen meinem Wort vertrauen: Ich will Ihnen helfen! Rufen Sie Ihre Gefährtin, dann werde ich Ihnen das Nötigste erklären.«
»Ich werde nicht –«, setzte Daeron an.
»Es ist in Ordnung«, fiel Alexandra ihm ins Wort. Sie brauchte Lucian nur anzusehen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Die tiefe Sorge in seinen Augen ging weit über das gewohnte Maß hinaus. Er wirkte abgehetzt. Als hätte er sich in großer Eile hierherbegeben. Einen Moment noch betrachtete Daeron Alexandra eingehend, als versuche er herauszufinden, ob er ihr tatsächlich vertrauen konnte. Der Vorwurf in seinen Zügen war deutlich: Sie sagten, es gebe keine weiteren Vampyre! Sie haben gelogen! Lucians Erscheinen hatte ihn zweifelsohne beunruhigt. Schließlich nickte er und verließ den Salon.
»Lucian, was ist passiert?«, wollte sie wissen, kaum dass Daeron fort war.
Er schüttelte den Kopf. »Das erkläre ich Ihnen, sobald der Vampyr mit seiner Frau zurück ist. Jetzt lassen Sie mich erst Ihre Verletzung ansehen.«
Alexandra öffnete den Mund zu einem Protest, doch sie fühlte sich zu elend, um sich auf die lange Diskussion – die gewiss auf ihre Verweigerung folgen würde – einzulassen. Deshalb entschied sie, ihn gewähren zu lassen.
Lucian musterte sie eingehend. »Geht es Ihnen wirklich gut?« Obwohl sie sich aus seinem Griff befreit hatte, ruhte seine Hand noch immer auf ihrem Arm. »Sie fühlen sich ganz eisig an!« Ehe sie etwas erwidern konnte, griff er nach einer Decke und legte sie ihr um die Schultern. Dann riss er ein Stück Stoff aus seinem Hemdensaum, griff in die Innentasche seines Rocks und zog eine kleine Flasche hervor. Mit flinken Fingern öffnete er den Verschluss und tränkte den Stofffetzen mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
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