Die Jaegerin
erkennen vermochte. Sie erhob sich und schlich vorsichtig an die Ecke heran, auf deren Seite der Weg zur Kirche lag. Ganz langsam reckte sie den Kopf um die Mauerkante und schickte ihren Blick voran. Der Pfad war kaum mehr auszumachen. Vierzig Jahre der Vernachlässigung hatten ihn unter Gras und Gestrüpp mit seiner Umgebung verschmelzen lassen. Angestrengt spähte Alexandra in Richtung der Kirche. Schwarz erhoben sich die massigen Umrisse aus der Nacht, die schlanken Erkertürme, die die Längsseite flankierten, wie warnende Finger in den Himmel gereckt. Es fiel Alexandra schwer, auf die Entfernung mehr zu erkennen. Selbst die Seitenpforte war in den Schatten nur zu erahnen. Bedächtig schob sie sich um die Ecke und tastete sich an der Wand entlang voran, die Augen weiter auf die Kirche gerichtet. War dort ein Lichtschimmer hinter einem der Fenster? Sie hielt inne und blickte aus zusammengekniffenen Augen auf eines der hohen Bogenfenster. Die Fensterscheiben waren zerstört. Lediglich einige große Scherben ragten noch, Dolchen gleich, aus dem Fensterrahmen. Dahinter tanzten helle Lichtkegel unruhig hin und her. Sie sind hier! War das der Grund, warum Lucian noch nicht zurückgekehrt war? War er ihnen in die Arme gelaufen? Alexandra ging weiter. Ihre Finger strichen über das raue Mauerwerk, tasteten sich vorsichtig voran. Schließlich wich die kühle Mauer und machte dem Holz des Türrahmens Platz. Dann endete die Verbindung schlagartig. Statt das glatte Holz einer Tür zu erfühlen, fassten ihre Finger ins Leere. Alexandra wandte den Kopf. In diesem Augenblick fanden ihre Finger die Tür, doch statt ihr weiter den Weg zu weisen, gab das Holz unter ihrer Berührung nach. Begleitet von einem leisen Knarren schwang die Tür nach innen auf. Alexandra hielt abrupt inne und starrte auf den schwarzen Schlund, der sich vor ihr auftat. Halb erwartete sie, einen der Männer des Unendlichen zu sehen, der eine Pistole auf sie anlegte. Doch da war nichts. Nur Dunkelheit. Langsam trat Alexandra näher und spähte angestrengt in die Schatten. Als sich nichts rührte, drückte sie die Tür ein Stück weiter auf. Im selben Atemzug gaben die Wolken den Mond frei. Kaltes Mondlicht flutete über sie hinweg ins Haus und entriss das zertrümmerte Mobiliar der Finsternis. Nicht einmal vor der Treppe hatte der wütende Mob haltgemacht. Jede einzelne Stufe war zerstört, ebenso wie die Wände und Türen. Ein gedämpftes Knacken in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Vor ihr wuchs die Silhouette eines Mannes empor – so nah, dass sie um ein Haar mit ihm zusammengeprallt wäre. Ein erschrockener Aufschrei entfuhr ihrer Kehle, der sich auch nicht mehr unterdrücken ließ, als sie Lucian erkannte. Blitzschnell packte er sie mit einer Hand am Arm und zog sie fest an sich. Die andere Hand legte sich kühl über ihren Mund und erstickte ihren Schrei.
»Schsch«, zischte er beinahe lautlos neben ihrem Ohr. »Wir sind nicht allein.« Er schob Alexandra fort von der Tür, bis sie die Wand in ihrem Rücken spürte, ehe er die Hand von ihrem Mund nahm. Noch immer stand er so dicht vor ihr, dass sie seinen Körper an ihrem fühlen konnte. Sein Blick wanderte forschend über ihre Züge. »Alles in Ordnung?«, fragte er nicht zum ersten Mal in dieser Nacht.
Alexandra nickte. Der Schrecken, der sie angesichts seines plötzlichen Erscheinens erfasst hatte, war gewichen. Ihr Herzschlag wollte sich allerdings nicht beruhigen. Nicht, solange er so dicht vor ihr stand und sie noch immer berührte. »Was haben Sie herausgefunden?«, flüsterte sie.
»Die Männer meines Bruders durchsuchen die Kirche«, berichtete er. »Andrej ist nicht bei ihnen. Ebenso wenig die Ushana. Wir haben es also nur mit Menschen zu tun. Das erleichtert die Sache.«
»Wie viele sind es?«
»Zehn oder zwölf.«
Alexandra sah ihn ungläubig an. Bei zwei oder drei Männern hätte sie ihm zugestimmt. Dann wäre es tatsächlich einfacher gewesen, als sich einem Vampyr zu stellen. Aber zehn? »Wie sollen wir unbemerkt an ihnen vorbeigelangen?«
»Ich werde sie ablenken«, erklärte Lucian. »Dann brauchen Sie nur noch den Moment zu nutzen und in die Kirche schlüpfen. Ab da wird es ein wenig schwieriger. Ich werde versuchen die Männer von Ihnen fernzuhalten. Allerdings weiß ich nicht, ob ich alle im Blick behalten kann.«
»Um die Kerle von mir fernzuhalten, müssten Sie ständig meinen Aufenthaltsort kennen. Woher wollen Sie wissen, wo ich gerade bin? Ich kann Ihnen unmöglich
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