Die Jaegerin
viele Geschichten und Gerüchte über Vampyre gehört, deren Wahrheitsgehalt sie in einigen Fällen am eigenen Leib herausgefunden hatte. Manche besagten, dass Vampyre kein fließendes Gewässer überqueren konnten, in anderen hatten sie kein Spiegelbild oder konnten sich in Wölfe oder Fledermäuse verwandeln. Knoblauch schadete ihnen angeblich ebenso wie Tageslicht oder Silber. Die meisten Dinge, die sich die Menschen über Vampyre erzählten, waren nichts weiter als haltlose Ammenmärchen. Alexandra war vielen Vampyren begegnet, doch sie hatte noch keinen einzigen gesehen, der tatsächlich seine Gestalt ändern konnte. Wenn der Unendliche es vermochte – ebenso wie Lucian –, so musste es eine ausgesprochen mächtige Fähigkeit sein. »Sie können sich tatsächlich verwandeln?«, hakte sie nach.
Lucian erwiderte ihren Blick ernst. »Immer wenn es gefährlich wird, verwandle ich mich in eine Ente und schwimme davon.«
Die Vorstellung war so absurd, dass sie Mühe hatte, nicht in Gelächter auszubrechen. Es wollte ihr jedoch nicht gelingen, ein Schmunzeln zu unterdrücken. »Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Nein, ist es nicht«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Ich wollte sie nur endlich einmal lächeln sehen – ein durchaus lohnenswertes Unterfangen, wie ich finde.«
Seine Worte ließen sie schlagartig wieder ernst werden. »Tun Sie das nicht, Lucian.«
»Was?«
»So zu tun, als wären wir zwei normale Menschen, die sich …« – zueinander hingezogen fühlen – »… sich unter vollkommen alltäglichen Umständen begegnen. Das sind wir nicht und wir werden es nie sein!«
»Denken Sie etwa, ich wüsste das nicht? Glauben Sie wirklich, mir wäre nicht Tag für Tag bewusst, was ich bin?« Trauer kroch wie dunkler Nebel heran und verfinsterte seinen Blick. »Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie Ihre Nähe auf mich wirkt? Können Sie sich vorstellen, dass gerade Sie mich ständig daran erinnern, wie einsam ich bin? Ich wünsche mir mein sterbliches Leben zurück – ein normales Dasein mit Freunden, Familie und einer Frau, die ich lieben kann und die auch mich liebt –, doch ich weiß, dass das niemals geschehen wird. Glauben Sie mir, Alexandra, mir ist sehr deutlich bewusst, dass wir alles andere als zwei normale Menschen sind.«
Seine Worte nahmen ihr den Atem. Sie hatte sich stets bemüht die menschlichen Seiten, die er an den Tag legte, zu ignorieren. Stattdessen hatte sie sich immer wieder ins Gedächtnis gerufen, dass er ein Monster war, das es lediglich vermochte, seinen Charme gezielt einzusetzen. Daran, wie er sein Dasein ertragen mochte, hatte sie nie gedacht. Womöglich hätte sie nach seiner Hand gegriffen, wären ihr menschliche Regungen während der letzten Jahre nicht so fremd geworden. So jedoch begnügte sie sich damit, seine Züge zu studieren. Er hatte den Kopf zur Seite gewandt und blickte angestrengt aus dem Fenster. Seine Miene war glatt und verriet nichts von dem, was in ihm vorging. Dennoch war Alexandra überzeugt, dass er ihr gerade mehr über sich offenbart hatte als beabsichtigt. Aber warum tat er das? Er wirkte nicht wie jemand, der so leicht die Kontrolle verlor. Lag es womöglich an ihr? Sie sind mein Schicksal. Um nicht länger über seine Gefühle nachdenken zu müssen, kehrte sie zum eigentlichen Thema zurück. »Was hat es nun wirklich mit dieser Gestaltveränderung auf sich?«
Einen Moment noch war sein Blick nach draußen gerichtet, dann wandte er den Kopf und sah sie an. Seine Miene entspannte sich ein wenig, als wäre er erleichtert, dass sie nicht näher auf seine Worte einging. »Es ist keine wirkliche Veränderung der Gestalt«, sagte er schließlich ruhig. »Zumindest nicht äußerlich. Erinnern Sie sich daran, wie Sie mir Ihren Silberdolch ins Herz gestoßen haben?«
» Sie haben meine Hand geführt.«
»Wie auch immer. Jedenfalls hat die Klinge mein Herz nicht getroffen. Sie –«
»Wie bitte?«, entfuhr es ihr. »Was reden Sie da? Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«
»Sie haben gesehen, wie die Klinge dort eingedrungen ist, wo mein Herz sein sollte. Ihr Dolch hätte mein Herz treffen sollen, doch als die Klinge meine Haut durchstieß, war mein Herz längst nicht mehr dort. In dem Augenblick, in dem etwas passiert, das für mich gefährlich sein könnte, verändert sich mein Körper innerlich. Organe ziehen sich zurück oder verschieben sich, Adern und Sehnen ändern ihren Verlauf, sodass keine Waffe es vermag, einen lebenswichtigen Körperteil zu
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