Die Jaegerin
verletzen. Das meine ich, wenn ich davon spreche, die Gestalt zu verändern.«
Alexandra konnte seine Worte nur mit einiger Mühe verarbeiten. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, dass nichts geschehen war, als sie ihm die silberne Klinge ins Herz gerammt hatte. Es war ihr bedeutend leichter gefallen, ohne jede Erklärung hinzunehmen, dass Lucian und der Unendliche schlichtweg unverwundbar waren. Zu hören, dass ein Körper in der Lage sein sollte, sein Inneres derart zu verändern, brachte sie an den Rand ihrer Vorstellungskraft. Schlimmer jedoch als die bloße Erkenntnis, dass so etwas überhaupt möglich sein konnte, war der Gedanke, über welche Macht eine Kreatur verfügen musste, um eine derartige Fähigkeit zu beherrschen. Sie wusste, dass der Unendliche mächtig war. Festzustellen, dass Lucian offenbar ebenso viele Fähigkeiten einsetzen konnte, bereitete ihr hingegen Kopfzerbrechen. War er am Ende doch gefährlicher, als er zu sein vorgab? »Und das Kreuz verhindert …« Ihr Mund war plötzlich trocken. Sie schluckte und rang sich die nächsten Worte ab. »… es verhindert, dass sich Ihr Körper verändert?«
Lucian nickte. »Wenn das Kreuz in der Nähe ist, verharrt unser Körper in seiner normalen Form. Dann sind wir verwundbar.«
»Das ist ziemlich schwer zu glauben.«
»Ähnlich schwer wie die bloße Existenz von Vampyren?«
Er hatte recht. Für einen normalen Menschen wäre es vermutlich schwer, damit fertig zu werden, dass derartige Wesen überhaupt existierten. Vom Wissen, dass es sie gab, hin zu der Erkenntnis, über welche Macht Lucian und sein Zwillingsbruder verfügten, war es nur noch ein kleiner Schritt. Tatsächlich hatte Lucian ihr bisher keinen Anlass geliefert, an seinen Worten zu zweifeln. Er begegnete ihr mit einer Aufrichtigkeit, durch die er nicht nur seinen Bruder, sondern auch sich selbst in große Gefahr brachte. Das war alles andere als selbstverständlich. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. »Heute Abend …«, setzte sie an. »Als ich sagte, dass Sie und Ihresgleichen nur Schaden anrichten … Das wollte ich so nicht sagen.«
Lucian schüttelte den Kopf. »Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssten. Durch meinesgleichen haben Sie unsägliches Leid erfahren. Das bedaure ich zutiefst. Wenn ich etwas davon rückgängig machen könnte, ich würde es tun – selbst wenn es mein eigenes Leben kosten sollte.«
Mit seinen Worten stieg die Erinnerung an ihre Familie in ihr auf. Es kostete sie Mühe, die Bilder von Blut, Tod und Gewalt zu verdrängen, die sich vehement in ihren Geist drängten. Sie biss sich auf die Lippe und wandte den Kopf ab. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sich bewegte, und für einen Moment glaubte sie, er wolle die Hand nach ihr ausstrecken. Dann jedoch rutschte er wieder in seinem Sitz zurück und blickte aus dem Fenster. Alexandra schloss für eine Weile die Augen und versuchte den Kopf freizubekommen. Als sie bemerkte, dass sie im Begriff war einzuschlafen, öffnete sie die Augen rasch wieder. »Was haben wir überhaupt vor?«, fragte sie, um sich von der aufkommenden Müdigkeit abzulenken.
»Wir gehen rein und holen das Kreuz.«
*
Am Rande von Rosslyn ließen sie den Kutscher anhalten und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Der eisige Ostwind trieb gewaltige Wolkenberge vor sich her, die immer wieder den Mond verdunkelten. Der Ort war nicht groß, sodass es nicht lange dauerte, bis sie ihn von einem Ende zum anderen durchquert hatten. Sobald sie das letzte Haus erreichten, spürte sie Lucians Hand auf ihrem Arm. Als sie ihn ansah, bedeutete er ihr, im Schatten der Hausmauer stehen zu bleiben. Seine Augen wanderten über die Umgebung, während seine Hand noch immer auf ihrem Arm ruhte. Alexandra hatte Mühe, unter der dichten Wolkendecke überhaupt etwas zu erkennen. Nur hin und wieder gaben die Wolken den Mond für einen kurzen Moment frei und enthüllten eine Weggabelung. Zu ihrer Rechten wuchsen die grobschlächtigen Umrisse eines Turmhauses aus der Dunkelheit empor. Dort lebten die Sinclairs, die Herren von Rosslyn. Alexandras Augen folgten der linken Abzweigung, bis sie an einem lang gezogenen Kirchenschiff hängen blieben. Das Gotteshaus stand vollkommen frei. Auf der Seite vor Alexandra und Lucian lag ein breiter Streifen Wiese zwischen den letzten Häusern und der Kapelle, während sich dahinter scheinbar endlose Felder erstreckten. Sobald die
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