Die Jagd am Nil
eigeneProduktionsfirma gegründet, um das fertige Produkt selbst an die Sendeanstalten zu verhökern. Die Kosten hatte er auf ein Minimum reduziert und unerfahrene Mitarbeiter wie Lily engagiert, mit denen er so gnadenlos umgesprungen war, dass ihre drei Kollegen vor einer Woche ausgestiegen waren und ihr diesen Albtraum von einer Reise allein aufgehalst hatten. Sie hatte gehofft, vor Ort Hilfskräfte anheuern zu können, doch Staffords hochnäsige Art hatte auch diese schnell wieder vertrieben. «Und dabei kriege ich nur selten die Möglichkeit, die Kamera zu führen. Meistens macht Charles alles selbst.» Sie rang sich ein mattes Lächeln ab. «Ich glaube, er sieht sich als einen unerschrockenen, einzelgängerischen Wüstenabenteurer. Er steht hinter der Kamera, wenn er seine Kommentare spricht, der Zuschauer muss sich ihn also dazudenken. Ich übernehme die Kamera nur, wenn er Leute interviewt oder wenn wir einen Schwenk oder einen Zoom brauchen.» Sie erreichten den Eingang der Stätte. Gaille schloss die Holztür auf, schaltete den Generator ein und wartete einen Moment, bis er sich aufgewärmt hatte. Dann machte sie das Licht an und führte Lily durch unheimliche Gänge aus bröckeligem Sandstein in einen höhlenartigen Raum. «Wow», murmelte Lily. «Was ist das?»
«Wir sind hier im Turm eines Tempels des Gottes Amun aus der neunzehnten Dynastie.» Sie zeigte auf die Steinhaufen in der hinteren Ecke. «Und deswegen habe ich Sie hergebracht. Das sind antike ägyptische Ziegelsteine, die
talalat
genannt werden. Sie wurden benutzt von …»
«Meine Güte», unterbrach Lily sie. «Darf ich das filmen?»
«Wenn das Licht hier drinnen ausreicht, sicher.»
Lily klopfte auf ihre Kamera. «Das ist ein Wunderding, glauben Sie mir. Es wird wunderbar atmosphärisch aussehen.» Sie hatte Kameras zu schätzen gelernt. Das war nicht immer so gewesen. Wenn sie früher bei Kindergeburtstagen oder in der Schule damit konfrontiertworden war, hatte sie sie gefürchtet und gehasst. Es war schon schlimm genug gewesen, wenn die anderen Kinder ständig auf ihr Muttermal gestarrt hatten, aber immerhin hatte sie dafür sorgen können, dass niemand eine grausame Bemerkung machte. Mit einer Kamera konnten sie ihre Hässlichkeit jedoch festhalten und sich, wann immer sie wollten, daran ergötzen, über sie lachen und sie beleidigen, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Sie war mit einer überbordenden Phantasie geschlagen gewesen. Manchmal hatte sie der Gedanke daran, was andere Kinder über sie sagen mochten, so gequält, dass sie sich nur damit beruhigen konnte, sich den Moment ihres eigenen Todes vorzustellen. Und weil er ihr wie eine Erlösung erschienen war, hatte sie begonnen, sich vorsätzlich zu verletzen, sich selbst ins Gesicht zu schlagen oder mit Scheren in die Arme zu schneiden. Doch eines Tages hatte ihr ein Onkel beinahe gleichgültig seine ausrangierte Videokamera geschenkt. Bei der Erinnerung überkam sie noch immer ein wohliger Schauer. Als sie den Sucher vors Auge gehalten hatte, hatte die Kamera ihr Muttermal verdeckt, was an sich schon herrlich gewesen war. Richtig verändert aber hatte sie die Macht, die sie durch die Kamera gewonnen hatte. Die Macht darüber, andere je nach ihrer Wahl gut oder schlecht, freundlich oder mürrisch, hässlich oder schön aussehen zu lassen. Und diese Macht hatte sie benutzt. Sie hatte ihr wahres Talent entdeckt. Es hatte ihr Identität und Selbstachtung geschenkt. Vor allem aber hatte sie einen Lebensweg gefunden.
Sie packte die Ausrüstung aus und baute alles auf, stöpselte den Kopfhörer ein, überprüfte den Tonpegel und die Blende, hob dann die Kamera auf die Schulter und drehte sich zu Gaille. «Was haben Sie gerade gesagt?», fragte sie.
«Oh», sagte Gaille erschrocken. «Ich dachte, Sie wollten die
talatat
filmen und nicht mich.»
«Ich möchte beides», sagte Lily, die daran gewöhnt war, den Leuten die Scheu vor der Kamera zu nehmen. «Aber machen Sie sich keine Sorgen. Charles hat bereits sein Drehbuch. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er es jetzt noch ändert, glauben Sie mir. Außerdem müssten Sie einer Veröffentlichung vorher sowieso schriftlich zustimmen. Wenn Ihnen die Aufnahmen also nicht gefallen …»
«Na schön.»
«Danke. Jetzt setzen Sie sich in die Hocke. Genau so. Drücken Sie Ihren Rücken durch und schauen Sie hoch zu mir. Nein, nicht so. Heben Sie Ihr Kinn. Noch etwas. Genau, perfekt. Jetzt legen Sie Ihre rechte Hand auf die
Weitere Kostenlose Bücher