Die Jagd beginnt
Denk aber daran, dass der Reiher nur eine Übungsform ist und sich nicht für den Ernstfall eignet. Abgesehen von der Bewegungsübung bist du dabei vollkommen ungedeckt. Du kannst zwar aus dieser Haltung zustoßen, wenn du wartest, bis sich der andere Mann zuerst bewegt, aber du kannst aus dieser Position seinem Stoß niemals ausweichen.«
»Sie muss einfach imstande sein, mir etwas zu sagen, Lan. Dieser Wind war unnatürlich, und es ist mir ganz gleich, wie nahe wir an der Fäule sind.«
»›Der Reiher watet durch das Schilf‹, Schafhirte! Und beachte deine Handgelenke.«
Aus dem Süden erklang das ferne Schmettern von Trompeten, eine rollende Fanfare, die langsam anschwoll und von stetigem Trommelklang begleitet wurde. Einen Augenblick lang sahen Lan und Rand sich nur an, doch dann lockte der Trommelklang sie an die Umfassungsmauer. Sie hielten nach Süden Ausschau.
Die Stadt lag auf einigen hohen Hügeln. Die Flächen vor den Stadtmauern waren eine ganze Meile weit nach allen Seiten bis auf Knöchelhöhe von allem Bewuchs befreit worden, und auf dem höchsten Hügel im Zentrum stand die Festung. Von der Turmspitze hatte Rand eine gute Aussicht über die Dächer und Schornsteine hinweg bis zum Wald. Die Trommler erschienen als Erste zwischen den Bäumen. Es war ein Dutzend, und sie hoben ihre Trommeln an, während sie im Rhythmus marschierten und die Schlegel durch die Luft wirbelten. Als Nächste kamen die Trompeter. Sie hielten die langen, glänzenden Fanfaren hoch und spielten immer noch denselben Tusch. Auf diese Entfernung konnte Rand nicht ausmachen, was auf dem riesigen quadratischen Banner zu sehen war, das hinter ihnen im Wind flatterte. Lan knurrte jedoch – der Behüter hatte die Augen eines Schneeadlers.
Rand sah ihn an, doch der Behüter sagte nichts. Er blickte unverwandt auf die Kolonne, die sich aus dem Wald herausschob. Gerüstete Männer ritten voran, und ihnen folgten berittene Frauen. Dann erschien eine von Pferden getragene Sänfte – ein Pferd davor und eines dahinter – mit heruntergezogenen Vorhängen, und schließlich folgten weitere Reiter. Hinter ihnen kamen Soldaten zu Fuß, deren Piken wie ein Dornengestrüpp aufragten, und Bogenschützen, die ihre Bögen quer vor der Brust hielten. Alle schritten im Rhythmus der Trommeln. Die Trompeten erklangen wieder. Wie eine singende Schlange wand sich die Kolonne Fal Dara entgegen.
Der Wind ließ die Flagge, die größer als ein Mann war, nach einer Seite hin flattern. Sie war so groß, dass Rand sie aus dieser Nähe nun deutlich erkennen konnte. Ein Farbendurcheinander, das Rand nichts sagte, aber im Mittelfeld der Flagge befand sich eine Form wie eine einzelne weiße Träne. Ihm stockte der Atem. Die Flamme von Tar Valon.
»Ingtar ist bei ihnen.« Lan hörte sich abwesend an. »Endlich zurück von der Jagd. Er war auch lange genug weg. Ich frage mich, ob er diesmal Glück hatte.«
»Aes Sedai«, flüsterte Rand, als er die Stimme wiederfand. All diese Frauen dort draußen … Moiraine war auch eine Aes Sedai, gewiss, aber er war mit ihr durchs Land gezogen, und wenn er ihr auch nicht ganz traute, so kannte er sie doch zumindest. Oder glaubte, sie zu kennen. Aber sie war nur eine von ihnen. So viele Aes Sedai auf einem Haufen, die auch noch so pompös anrückten, das war etwas ganz anderes. Er räusperte sich, doch als er sprach, war seine Stimme rau. »Warum so viele, Lan? Warum kommen sie überhaupt? Und mit Trommeln und Trompeten und einem Banner, um ihre Ankunft anzukündigen?«
Die Aes Sedai wurden in Shienar anerkannt, jedenfalls von vielen Menschen, und der Rest hatte Respekt vor ihnen, doch Rand war an Orten gewesen, wo das anders ausgesehen hatte, wo nur Angst und oft auch Hass vorgeherrscht hatten. Wo er aufgewachsen war, sprachen zumindest einige Männer von ›den Hexen aus Tar Valon‹ so, als ob sie vom Dunklen König sprächen. Er versuchte, die Frauen zu zählen, aber sie hielten sich nicht an eine feste Marschordnung, ritten kreuz und quer zu anderen, um sich zu unterhalten, oder sprachen mit wem auch immer in der Sänfte. Er hatte eine Gänsehaut. Er war mit Moiraine umhergezogen, hatte auch eine andere Aes Sedai kennen gelernt und hatte sich allmählich für weltgewandt gehalten. Keiner verließ je die Zwei Flüsse, oder fast keiner, doch er war in die Welt gezogen. Er hatte Dinge gesehen, auf die noch nie jemand von den Zwei Flüssen einen Blick geworfen hatte, Dinge getan, von denen sie dort nur geträumt
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