Die Jagd beginnt
hastig aus. Sie warf ihre Kleidung beiseite und zog das Kleid der Sul’dam über. Min half ihr beim Zuknöpfen.
Nynaeve bewegte die Zehen in den Stiefeln. Sie waren ein wenig zu eng. Auch das Kleid saß über dem Busen etwas zu straff und anderswo war es zu weit. Der Saum schleifte beinahe am Boden, niedriger als bei der Sul’dam , aber bei den anderen hätte es noch auffälliger gewirkt. Sie hob das Armband auf, atmete tief ein und schloss es um den linken Unterarm. Die Enden verschmolzen miteinander, sodass es wie aus einem einzigen Stück gefertigt schien. Es fühlte sich nur wie ein Armband an – nicht mehr. Das hatte sie befürchtet.
»Hol dir das Kleid, Elayne.« Sie hatten zwei Kleider gefärbt – eines von ihren und eins von Elayne –, und zwar in dem Grau, wie es die Damane trugen. Diese Sachen hatten sie hier versteckt. Elayne rührte sich nicht, starrte nur das offene Halsband an und leckte sich die ausgetrockneten Lippen. »Elayne, du musst es tragen! Zu viele hier kennen Min bereits, als dass sie es tragen könnte. Ich hätte es getragen, wenn dir dieses Kleid passen würde.« Sie befürchtete, sie wäre wohl verrückt geworden, hätte sie dieses Halsband tragen müssen. Deshalb blieb ihre Stimme sanft, als sie jetzt mit Elayne sprach.
»Ich weiß«, seufzte Elayne. »Doch wüsste ich nur mehr über seine Wirkungen!« Sie schob ihr rotgoldenes Haar weg, um dem Halsband Platz zu machen. »Min, hilf mir bitte.« Min knöpfte Elaynes Kleid hinten auf.
Nynaeve brachte es fertig, das silberne Halsband in die Hand zu nehmen, ohne es fallen zu lassen. »Es gibt eine Möglichkeit, mehr darüber herauszufinden.« Nach nur kurzem Zögern beugte sie sich vor und legte das Halsband um den Hals der Sul’dam . Wenn irgendjemand es verdient, dann sie , sagte sie sich entschlossen. »Sie kann uns vielleicht Nützliches verraten.« Die Frau mit den blauen Augen starrte die Leine an, die sich von ihrem Hals zu Nynaeves Arm schlängelte, und funkelte Nynaeve verächtlich an.
»So gelingt das nicht«, sagte Min, doch Nynaeve hörte kaum hin.
Sie war sich der anderen Frau … bewusst, ihrer Gefühle bewusst. Sie spürte, wie ihr die Schnur in die Beine und Arme schnitt, wie die Lumpen in ihrem Mund nach ranzigem Fisch schmeckten, wie das Stroh sie durch die dünne Unterwäsche hindurch stach. Es war nicht so, als fühle sie selbst diese Dinge, aber in ihrem Kopf gab es ein Bündel von Gefühlen, die zu der Sul’dam gehörten.
Sie schluckte, versuchte, diese Gefühle beiseite zu schieben, was ihr nicht gelang, und sagte zu der gefesselten Frau: »Ich werde dir nicht wehtun, wenn du meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortest. Wir sind keine Seanchaner. Aber solltest du mich anlügen …« Sie hob drohend die Leine.
Die Schultern der Frau zuckten, und ihr Mund verzog sich trotz des Knebels höhnisch. Nynaeve brauchte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass die Sul’dam lachte.
Sie straffte die Lippen, und ihr kam ein Gedanke. In diesem Bündel von Gefühlen, das sie spürte, war alles konzentriert, was diese Frau fühlte. Probeweise fügte sie dem Bündel etwas Eigenes hinzu.
Plötzlich quollen der Sul’dam beinahe die Augen aus dem Kopf, und sie schrie so laut auf, dass selbst der Knebel den Schrei kaum dämpfte. Sie spreizte die Hände, die hinter ihrem Rücken gefesselt waren, als wolle sie etwas abwehren, und wand sich in dem vergeblichen Versuch zu fliehen.
Nynaeve sah sie verblüfft an und ließ schnell die selbst hinzugefügten Gefühle verschwinden. Die Sul’dam sackte weinend ins Stroh.
»Was … Was hast du … ihr getan?«, fragte Elayne schüchtern. Min starrte sie mit offenem Mund an.
Nynaeve antwortete mürrisch: »Das Gleiche, was Sheriam mit dir getan hat, als du den Pokal nach Marith geworfen hast.« Licht, das ist ein wahrlich schmutziges Ding.
Elayne schluckte vernehmlich. »Oh.«
»Aber es heißt, dass ein A’dam auf diese Weise nicht glückt«, sagte Min. »Sie haben immer behauptet, es wirke nicht bei einer Frau, die die Macht nicht lenken kann.«
»Es ist mir gleich, was man darüber behauptet, solange es nur gelingt.« Nynaeve packte die silberne Leine dort, wo sie an dem Halsband befestigt war, und zog die Frau hoch, um ihr in die Augen zu sehen. Es waren nun verängstigte Augen. »Hör mich an, und hör gut hin. Ich verlange Antworten, und wenn ich die nicht bekomme, wirst du glauben, ich hätte dir die Haut bei lebendigem Leibe heruntergerissen.« Blankes Entsetzen
Weitere Kostenlose Bücher