Die Jagd beginnt
hatte, stand die Amyrlin auf, und Moiraine spürte ein kurzes Prickeln auf der Haut, als die andere Frau die Eine Macht einsetzte. Für einen Augenblick schien die Amyrlin von einem hellen Lichtkranz umgeben zu sein.
»Ich weiß nicht, ob irgendwelche anderen deinen alten Trick beherrschen«, sagte die Amyrlin und berührte mit einem Finger den blauen Kristall auf Moiraines Stirn, »aber die meisten von uns haben ein paar alte Tricks auf Lager, an die wir uns aus unserer Kindheit erinnern. Jedenfalls kann nun keiner mehr belauschen, was wir sagen.«
Plötzlich umarmte sie Moiraine; es war die warmherzige Umarmung alter Freundinnen, und Moiraine drückte sie ihrerseits ganz fest.
»Du bist die Einzige, Moiraine, bei der ich daran erinnert werde, wer ich einmal war. Selbst Leane benimmt sich immer so, als sei ich Stola und Stab, auch wenn wir allein sind. Dabei haben wir als Novizinnen miteinander gekichert. Manchmal wünsche ich mir, du und ich, wir wären immer noch Novizinnen. Immer noch unschuldig genug, um alles als die Wirklichkeit gewordene Erzählung eines Gauklers zu betrachten, und auch unschuldig genug, um zu glauben, dass wir Männer finden würden – erinnerst du dich daran, wie wir von schönen, starken, sanften Prinzen träumten? –, die es auf sich nehmen würden, mit Frauen von der Macht einer Aes Sedai zu leben. Unschuldig genug, um an den glücklichen Ausgang der Gauklergeschichte zu glauben und unser Leben genau wie andere Frauen zu verbringen, wenn auch ein bisschen mehr dahinter stecken würde.«
»Wir sind Aes Sedai, Siuan. Wir haben eine Pflicht. Auch wenn wir beide ohne das Talent geboren wären – würdest du alles eines Heims und eines Ehemanns wegen aufgeben, selbst wenn er ein Prinz ist? Ich glaube nicht. Das ist der Traum einer Dorffrau. Nicht einmal die Grünen gehen so weit.«
Die Amyrlin trat zurück. »Nein, ich würde es nicht aufgeben. Die meiste Zeit über jedenfalls nicht. Aber es hat Zeiten gegeben, da beneidete ich die Frauen vom Land. Jetzt gerade auch wieder. Moiraine, wenn irgendjemand, sogar Leane, herausbekommt, was wir planen, dann werden wir beide eine Dämpfung erfahren. Und ich kann noch nicht einmal sagen, dass sie im Unrecht wären.«
KAPITEL 5
Der Schatten in Shienar
E ine Dämpfung … Das Wort schien beinahe sichtbar in der Luft zu hängen. Man tat das bei Männern, die die Eine Macht lenken konnten und die man aufhalten musste, bevor sie wahnsinnig wurden und alles um sich herum zerstörten, aber nur äußerst selten bei einer Aes Sedai. Eine Dämpfung. Nicht mehr in der Lage, die Macht zu kontrollieren. Man konnte Saidar , die weibliche Hälfte der Wahren Quelle, immer noch fühlen, hatte aber die Fähigkeit verloren, sie zu berühren. Man wurde immer an etwas erinnert, was man für alle Zeiten verloren hatte. Es war so selten geschehen, dass man von jeder Novizin verlangte, die Namen aller Aes Sedai auswendig zu lernen, die seit der Zerstörung der Welt eine Dämpfung erfahren hatten, und dazu ihr Verbrechen, aber niemand konnte ohne zu schaudern an so etwas denken. Frauen ertrugen eine Dämpfung genauso schlecht wie Männer.
Moiraine war sich von Anfang an über das Risiko im Klaren gewesen, aber sie wusste, es war notwendig. Das hieß aber nicht, dass es angenehm für sie war. Ihre Augen zogen sich zusammen, und nur das Funkeln darin zeugte von ihrem Zorn und ihren Sorgen. »Leane würde dir bis zum Abhang des Shayol Ghul folgen, Siuan, und in den Krater des Verderbens hinein. Du kannst doch nicht glauben, sie würde dich verraten.«
»Nein. Aber andererseits, würde sie es als Verrat betrachten? Ist es Verrat, wenn man eine Verräterin verrät? Hast du daran gedacht?«
»Niemals! Was wir tun, Siuan, ist das, was getan werden muss. Das war uns beiden fast zwanzig Jahre lang bewusst. Das Rad webt, wie das Rad es will, und wir beide wurden für diese Aufgabe vom Muster erwählt. Wir sind ein Teil der Prophezeiungen, und die Prophezeiungen müssen erfüllt werden. Sie müssen!«
»Die Prophezeiungen müssen erfüllt werden. Man hat uns beigebracht, das dies geschehen wird und geschehen muss, und doch bedeutet ihre Erfüllung Verrat an allem anderen, was man uns gelehrt hat. Einige würden sagen, Verrat an allem, wofür wir stehen.« Die Amyrlin rieb sich die Arme und ging hinüber zu einer Schießscharte, um durch die enge Öffnung in den Garten darunter zu spähen. Sie berührte die Vorhänge. »Hier in den Frauenquartieren hängen sie Vorhänge
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