Die Jahre der Toten: Roman (German Edition)
tastete die Straße mit Blicken ab. Die Straße war abgesehen von einigen ausgeschlachteten Autos und umgekippten Mülltonnen leer.
» …’ne beschissene Geisterstadt«, murmelte er und schüttelte sich. Es lag nicht nur an der Kälte.
Die Straße hinunter, nach etwa drei Vierteln eines Häuserblockes, sichtete er den Umriss eines hölzernen Firmenschildes. Es hatte die Form einer Angelrute. Das musste das Sportartikelgeschäft sein. Wenn er dorthin gelangen wollte, musste er über die Kreuzung gehen und sich für einen Augenblick zeigen.
» Zeit vergeuden bringt nichts«, murmelte Stiles. Er richtete sich auf und lief wie ein Blitz über die Straße. Seine Stiefel schlugen klatschend auf den Asphalt. Auf der anderen Seite drückte er sich mit dem Rücken an die nächste Hauswand, ging in die Hocke, hob die Pistole und suchte die Gegend ab. Über den Lauf hinweg spähte er auf der Straße erneut nach Aktivitäten. Die einzigen hörbaren Geräusche waren sein schweres Atmen und das metallische Klicken der Pistole in seinen bebenden Händen. Er hatte es geschafft. Niemand hatte ihn gesehen.
Noch immer geduckt, sprang er um die Hausecke und tauchte wieder ins Dunkel ein. Er entspannte sich leicht, erhob sich ein Stück, aber nicht zu hoch, um beweglich zu bleiben, und lief den Gehsteig entlang. Immer bevor er eine Gasse oder Toreinfahrt passierte, hielt er inne, schmiegte sich an die Wand und lugte schnell um die Ecke, um nach Überträgern Ausschau zu halten.
Der Laden vor dem Sportartikelgeschäft war ein mit Zeichentrickfiguren, Waschmaschinen und Wäschetrocknern verzierter Waschsalon. » Für 25 Cent saubere Wäsche!« Das Schaufenster war komplett zu Bruch gegangen. Auf dem Gehsteig wimmelte es von Glasscherben.
Stiles blieb vor dem Gebäude stehen. Er legte den Kopf auf die Seite, hielt die Luft an und verharrte so lange wie möglich in dieser Position. Er glaubte, etwas zu hören. Fünf, zehn, zwanzig Sekunden vergingen. Stiles atmete und regte sich noch immer nicht.
Da war es wieder: das Geräusch von Schritten auf Glas. Stiles fuhr herum und duckte sich vor der eingeschlagenen Fensterscheibe. Er hatte das Gefühl, dass er es nicht zu dem Laden schaffen würde, den er aufsuchen wollte. Bestimmt kam ihm zuvor ein Überträger in die Quere. Es konnte, verdammt nochmal, kein Gesunder sein, der mitten in der Nacht an einem kaputten Ladenfenster stand. Jeder Lebendige wusste doch inzwischen, was ihm dabei blühen konnte.
» Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte Stiles.
Es gab keine andere Möglichkeit, zum Sportartikelladen zu kommen. Er musste genau an dem Fenster des Waschsalons vorbei, es sei denn, er kehrte um und umrundete den ganzen Häuserblock. Doch wer wusste schon, wie viele Infizierte ihm vielleicht auf diesem Weg begegneten?
Die Pistole konnte er nicht einsetzen. Sie war nur ein letzter Ausweg. Stiles wusste es. Er hatte fünfzehn Schuss, um sich aus einem vermasselten Unternehmen herauszuballern. Ein Schuss auf einen Überträger kostete ihn nicht nur eine kostbare Kugel, sondern sagte auch jedem Infizierten auf der Straße, dass er hier war.
Mark Stiles war kein voreiliger oder waghalsiger Mensch. Für so etwas brauchte er einen Grund. Dass er Suez, Scharm El-Scheich und den Kampf auf der Ramage überlebt hatte und nach Hause gelangt war, war dafür Beweis genug. Er griff an seinen Gürtel, steckte die Pistole ein und sicherte sie an seiner Seite.
Seine Hand tastete weiter, öffnete einen Knopf und zog ein Werkzeug ins Freie, dass die meisten Soldaten der Gegenwart kaum noch verwendeten: ein Bajonett. Stiles hatte es behalten, als ihm die Munition für sein M-16 ausgegangen war. Ein Messer war ein Allzweckwerkzeug. Er hatte heute Abend auch eine andere Verwendung für die Klinge; er brauchte sie nicht nur zum Pfählen von Gegnern. Vor Monaten hatte er einen ganzen Tag damit verbracht, eine ihrer Seiten so zu polieren, dass sie blitzte wie ein Spiegel– und genau so sollte es sein. Ursprünglich hatte er vorgehabt, das Bajonett zum Säubern von Gebäuden im brennenden Wüstenlicht zu verwenden. Um eine Ecke schauen zu können, ohne sich selbst zu offenbaren, konnte einem das Leben retten, wenn hinter der Ecke jemand mit einer Maschinenpistole stand.
Stiles streckte sich auf dem Boden aus. Er legte sich flach auf den Bauch und kroch langsam um den Buckel zum Ende des kaputten Fensters, und zwar sehr zielbewusst. Kurz vor den Glasscherben hielt er an und drehte sich auf den Rücken.
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