Die Jahre der Toten: Roman (German Edition)
Kleinen helfen?«
Rebecca warf das Päckchen mit dem Verbandszeug auf eine blutige, verschmutzte Transportliege und begab sich zu der Frau, die ihr die Arme entgegenstreckte. Sie trug ein Kind, das vielleicht fünf oder sechs Jahre alt war. Sein Gesicht war geschwärzt, aufgeplatzt und fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Das Kind weinte nicht.
» Lassen Sie mich sehen!«, rief Rebecca durch die Menge. Die Frau legte das Kind in ihre ausgestreckten Arme.
Rebecca legte das Mädchen auf die Transportliege und berührte seine Kehle mit zwei Fingern. Es war kein Puls spürbar. Das Kind war bereits tot.
» Doktor!«, rief Rebecca. Einer der drei Ärzte, die an ihrem Posten arbeiteten, hielt kurz inne und warf ihr einen fragenden Blick zu. » Schauen Sie sich das mal an!«
Der Arzt eilte zu ihnen. Rebecca wandte sich zu der Mutter um, legte einen Arm um ihre Schulter und führte sie von der Liege fort.
» Kommen Sie… Kommen Sie mit… Ich gebe Ihnen etwas zu trinken. Der Arzt kümmert sich um Ihre Kleine… Machen Sie sich keine Sorgen.«
Die Mutter schluchzte noch immer. Sie schaute nach hinten zu ihrem Kind. Dann schaute sie Rebecca an. Sie war durcheinander, verletzt und völlig aufgelöst, ließ es aber zu, dass Rebecca sie fortbrachte.
Hinter ihnen wandte sich der Arzt kurz um. Er schaute nach, ob die Mutter gerade herschaute, dann zog er ein Laken über den Kopf des Kindes. Er winkte zwei einheimischen Freiwilligen, die zu ihm eilten und die Transportliege schnell wegschoben.
Dieses Verfahren hatte man erst im Lauf der letzten Stunden entwickelt: Hinterbliebene verursachten einfach zu viel Desorganisation. Nachdem es zwischen einem trauernden Vater und einem Soldaten, der ihn aufgefordert hatte, Platz für neue Patienten zu machen, zu einem Streit gekommen war, war man dazu übergegangen, die Patienten zu belügen.
Rebecca hasste die Lüge. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, Leuten zu erzählen, es ginge ihren Verwandten gut, obwohl sie längst tot waren. Sie malte sich aus, wie sie sich fühlen würde, wenn man sie so behandelte und sie irgendwann später die Wahrheit erfuhr. Es musste verheerend für die Menschen sein. Sie waren schon verletzt genug; ihre Wunden würden sich nur verschlimmern.
Rebecca zog eine Feldflasche aus dem hinteren Teil des Versorgungslasters und bat die weinende Mutter, sich an einem der dicken Reifen des Fahrzeugs hinzusetzen.
» Hier.« Sie drehte den Verschluss auf. » Trinken Sie das. Dann wird’s Ihnen bessergehen.«
Die Frau verstummte gerade so lange, wie sie brauchte, um einen Schluck zu trinken. Sie spuckte und hustete, dann versuchte sie es noch einmal. Diesmal nahm sie einen großen Schluck zu sich. Als sie fertig war, gab sie Rebecca die halb geleerte Flasche mit einem dankbaren Blick zurück.
» Na bitte«, sagte Rebecca. » Geht’s besser?«
Der Frau gelang ein Nicken.
» Ich schaue mal nach Ihrer Kleinen«, sagte Rebecca. » Bleiben Sie bitte hier und ruhen Sie sich aus, ja?« Sie ließ die Flasche bei der Frau, stand auf und wankte kurz. Wieder wurde ihr bewusst, wie durstig sie selbst war, doch sie dachte an die anderen Verletzten, die ständig zu ihrem Hilfslazarett kamen. Rebecca wandte sich um und lief an ihren Posten zurück. Schon vor Stunden hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft sie zum Nachschub und zurück gelaufen war. Ihre Füße kribbelten, wenn sie aufs Pflaster schlugen. Ihr Blickfeld verwischte sich leicht, dann wurde es wieder scharf.
Als sie den Posten erreichte, verlangsamte sie, stützte sich auf die Knie und versuchte zu Atem zu kommen. Sie war doch nur lumpige dreißig Meter weit gelaufen! Wieso ging ihr jetzt schon die Puste aus?
Irgendwie wurde die Welt unscharf und wieder scharf. Rebecca streckte eine Hand aus, um ihr Gleichgewicht zu halten.
» Rebecca?«, rief jemand. Ein Arzt. » Rebecca, bist du in Ordnung?«
Sie schaute dorthin, wo die Stimme herkam, konnte das Gesicht aber nicht erkennen. Sie sah nur einen Umriss, und dahinter ragte ein Vorhang aus Feuer auf. Rebecca spürte, dass die Welt sich um sie drehte, dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Sie fiel besinnungslos zu Boden. Sie war zu einem jener Opfer geworden, die zu retten sie sich den ganzen Tag lang abgerackert hatte: ein Opfer der Hitze und der Austrocknung. Der Arzt, der sie gerufen hatte, eilte zu ihr und ging neben ihr in die Hocke. Dann rief er um Hilfe.
» Sie verglüht! Bringt sie hier weg, und dann ins Basislager! Und schafft um Gottes willen mehr
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