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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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übliche Zeit, um das Frühstück vorzubereiten – Mangos, Quitten, Mameysapotes und Pfirsiche, Rührei, Kleienbrot und Milchkaffee –, das sie um sieben auf die Plätze stellte, die von den in Silberringen zusammengerollten Servietten bezeichnet wurden.
    Mit Wehmut, die sie später für eine Vorahnung hielt, betrachtete sie die Plätze ihrer drei Schwestern und die in die Silberringe eingravierten Initialen H, V und MO. Als um Viertel nach sieben immer noch niemand erschienen war, ging sie in Maria de la Os Zimmer und weckte sie.
    »Entschuldige. Ich habe ganz schlecht geträumt.«
    »Was hast du geträumt?«
    »Von einer Welle. Ich weiß nicht«, sagte das Tantchen beinahe schamrot. »Verdammte Träume, warum verflüchtigen sie sich so schnell?«
    Gleich danach klopfte Leticia an Hildas Tür und bekam keine Antwort. Sie machte die Tür halb auf und fand das Bett glatt und unberührt. Sie öffnete den Kleiderschrank und sah, daß nur ein Haken leer war, und zwar der, der normalerweise das lange weiße Nachthemd mit der rüschenbesetzten Brust trug, das Leticia mehr als tausendmal gewaschen und gebügelt hatte. Die Hausschuhe und Halbstiefel waren vollkommen ordentlich und komplett aufgereiht, wie eine ruhende Armee.
    Ängstlich rannte sie zu Virginias Zimmer, nun schon sicher, daß sie dort auch kein ungemachtes Bett vorfinden würde. Statt dessen entdeckte Leticia einen Zettel in einem an sie adressierten und an den Spiegel gelehnten Kuvert:
    »Schwesterchen! Hilda konnte nicht werden, was sie wollte, und ich auch nicht. Gestern haben wir uns im Spiegel betrachtet und das gleiche gedacht. Der Tod ist besser als Krankheit und Verfall. Wozu mit (christlicher?) Geduld auf die letzte Stunde warten, warum nicht den Mut haben, dem Tod entgegenzugehen, anstatt ihm die Genugtuung zu bieten, daß er eines Nachts an unsere Tür klopfen kann? Wir hocken hier in Xalapa, gütig und eifrig von dir umsorgt, und erlöschen langsam wie zwei heruntergebrannte Kerzen. Wir beide wollen etwas tun, das dem gleichkommt, was wir im Leben nicht verwirklichen konnten. Unsere Schwester hat sich ihre arthritischen Finger angesehen und ein Nocturne Chopins vor sich hin gesummt. Ich habe mir die Schatten unter meinen Augen angesehen und an jeder Falte ein Gedicht abgezählt, das nie veröffentlicht wurde. Wir haben uns gegenseitig angesehen und begriffen, was die andere dachte –stell dir vor: wir haben so viele Jahre zusammengelebt, haben uns nicht getrennt, seit wir auf die Welt gekommen sind, so daß wir heute unsere Gedanken lesen können! Erinnerst du dich, letzte Nacht haben wir vier uns in den Salon gesetzt, um Tute zu spielen. Ich war mit Mischen dran (Hilda kann ja nun mal wegen ihrer Finger nicht) und begann mich unwohl zu fühlen wie jemand, der in Agonie verfällt und es weiß, doch so schlecht ich mich auch fühlte, ich durfte nicht mit dem Mischen aufhören, mischte weiter ohne Sinn und Verstand, bis ihr, du und Maria, mich erstaunt ansaht, mischte weiter, nun wie wahnsinnig, als ob mein Leben vom Kartenmischen abhing, und du, Leticia, hast den verhängnisvollen Satz ausgesprochen, hast wieder einmal diese witzige, altbekannte, schreckliche Redensart ausgesprochen: ›Es ist schon mal einer beim Kartenmischen gestorben.‹
    Da habe ich Hilda angesehen und sie mich, und wir haben uns verstanden. Du und Maria, ihr wart anderswo, außerhalb unserer Welt.
    Ihr habt die Karten angesehen, und du hast den Kreuzkönig auf den Tisch gelegt.
    Hilda und ich haben uns einen Blick zugeworfen, der vom Grund unserer Seele kam… Suche nicht nach uns. Schon gestern nacht haben wir beide die weißen Nachthemden angezogen, wir sind barfuß geblieben, wir haben Zampayita geweckt und ihn angewiesen, uns im Isotta ans Meer, zum See zu bringen, wo wir geboren wurden. Er hat nicht widersprochen, aber uns wie Verrückte angestarrt, weil wir im Nachthemd ausfahren wollten. Er wird allen Anweisungen gehorchen, die ihm eine von uns gibt. Wenn du aufwachst und diesen Brief liest, wirst du deshalb Hilda und mich nicht finden, auch nicht den kleinen Schwarzen und den Wagen. Zampayita wird uns dort aussteigen lassen, wo wir es ihm sagen, und wir werden barfuß im Urwald verschwinden, ohne Orientierung, ohne Geld, ohne einen Korb mit Brot, barfuß und im Nachthemd, das wir nur aus Scham angezogen haben. Wenn du uns liebst, suche uns nicht. Achte unsere Entscheidung. Wir wollen aus dem Tod eine Kunst machen. Die letzte. Die einzige. Nimm uns diese Freude

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