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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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und immer mehr der Gefahr ausgesetzt sei, in Stücke zu zerfallen, wie jener Fötus, den sie nur unter Gelächter hatte ausstoßen können: Sie zeichnete immer schneller und fieberhafter, und genauso redete sie, Laura würde ihre Worte nie wieder vergessen: »Häßlich ist ein Körper ohne Gestalt, hilf mir, die verstreuten Teile zu vereinen, Laura, damit ich ihm eine eigene Gestalt gebe, hilf mir, die Wolke im Flug zu fangen, die Sonne, die Kreidesilhouette meines Kleides, das rote Band, das mich mit meinem Fötus vereint, das blutige Laken, das meine Toga ist, das geronnene Kristallglas der Tränen, die mir über die Wangen laufen, alles zusammen, bitte hilf mir, alles Verstreute zusammenzubringen und ihm eine Gestalt zu geben, möchtest du? Es kommt nicht auf das Thema an, Leid, Liebe, Tod, Geburt, Revolution, Macht, Stolz, Eitelkeit, Traum, Gedächtnis, Wille, es kommt nicht darauf an, was den Körper belebt, wenn man ihm nur eine Gestalt gibt, dann ist er nicht mehr häßlich, Schönheit gehört dem, der sie versteht, nicht dem, der schön ist, Schönheit ist nichts anderes als die Wahrheit jedes einzelnen von uns, die Diegos, wenn er malt, meine erfinde ich in diesem Krankenhausbett, du mußt deine noch entdecken, Laura, wegen allem, was ich dir gesagt habe, verstehst du, daß ich sie dir nicht verraten werde, es liegt an dir, sie zu verstehen und zu finden, deine Wahrheit, du kannst mich ohne Scham betrachten, Laura Dïaz, und sagen, daß ich entsetzlich aussehe, daß du es nicht wagst, mir den Spiegel zu zeigen, daß ich heute in deinen Augen nicht schön bin, an diesem Tag und an diesem Ort bin ich nicht hübsch, und ich antworte dir nicht mit Worten, ich bitte dich statt dessen um Farben und ein Stück Papier, und aus meinem schrecklichen, verletzten Körper und meinem vergossenen Blut mache ich meine Wahrheit und meine Schönheit, denn du weißt, meine gute Freundin, meine richtige, großartige Kameradin, nicht wahr?, uns selbst zu erkennen macht uns schön, weil es unsere Sehnsüchte ergründet, eine Frau, die sich sehnt, ist immer schön…«
    Das Krankenhauszimmer füllte sich zuerst mit Heften, später mit losen Zetteln, dann mit Bildtafeln, als Diego einige Kirchenbildchen aus Guanajuato mitbrachte und Laura daran erinnerte, wie die Leute in den Dörfern und auf dem Lande malten, auf weggeworfenen Messingplatten und Holztafeln, die, wenn die Dörfler sie gestalteten, zu Votivbildern wurden, als Dank für das Jesuskind von Atocha, die Heilige Jungfrau von der Immerwährenden Hilfe, den Christus von Chalma, für das vollbrachte Wunder, das alltägliche Wunder, das ein Kind vor der Krankheit gerettet hatte, den Vater vor einem Grubeneinsturz, die Mutter davor, im Fluß zu ertrinken, als sie badete, Frida vor dem Tod, als sie von einer Eisenstange durchbohrt wurde, die Großmutter Côsima davor, unterwegs am Perote durch Machetenhiebe umzukommen, Tantchen Maria de la O davor, verwahrlost in einem Negerbordell zu enden, Großvater Felipe vor dem Tod in einem Schützengraben an der Marne, ihren Bruder davor, an einem Morgen in Veracruz erschossen zu werden, Frida noch einmal davor, bei der Entbindung zu verbluten. Und wovor war Laura gerettet worden, für welche Rettung mußte sie dankbar sein?
    »Lies Frida dieses Gedicht vor.« Rivera gab Laura eine dünne Broschüre. »Das ist das beste mexikanische Gedicht seit Sor Juana. Lies, was auf dieser Seite steht:
    ›Mit mir erfüllt, in meiner Haut belagert
    von einem unfaßbaren Gott, der mich erstickt…‹
    Und weiter unten:
    ›Verstand, o Einsamkeit in Flammen, der alles aufnimmt, ohne es zu schaffen…‹
    Und am Ende:
    ›mit Ihm, mit mir, mit uns dreien…‹
    Seht ihr, wie Gorostiza alles versteht? Wir sind nur drei, immer drei. Vater, Mutter und Sohn. Frau, Mann und Geliebter. Tausche alles beliebig aus, am Ende behältst du immer drei übrig, denn vier, das ist schon unmoralisch, fünf ist schwer zu bewältigen, zwei ist unerträglich und einer allein bedeutet die Schwelle zu Einsamkeit und Tod.«
    »Warum soll ein Quartett unmoralisch sein?« wunderte sich Frida. »Laura hat geheiratet und zwei Kinder.«
    »Mein Mann ist weg.« Laura lächelte schüchtern. »Oder genauer gesagt, ich habe ihn verlassen.«
    »Und es gibt immer ein Lieblingskind, selbst wenn du ein Dutzend hast«, setzte Frida hinzu.
    »Drei, immer drei«, murmelte der Maler, während er fortging.
    »Irgend etwas hat der große Dreckskerl vor.« Frida zog die dicken Brauen zusammen.

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