Die Jahre mit Laura Diaz
seines Schicksals begreifen mußte. Was blieb ihr anderes übrig, als diskret über sie zu wachen, viel zu ertragen und gleichzeitig zu bitten, viel Zeit zum Leben und wenig zum Leiden wie die Tanten Hilda und Virginia zu haben?
Manchmal verbrachte sie die ganze Nacht damit, die Schlafenden anzusehen. Sie war entschlossen, ihre Kinder überallhin zu begleiten, wie eine sehr lange Küste, an der Meer und Strand zwar verschieden, aber fest verbunden sind; selbst wenn die gemeinsame Wegstrecke nur eine Nacht dauerte, dabei aber von der Hoffnung erfüllt war, nie zu enden – und sie ließ die Frage unbeantwortet, die über den Köpfen ihrer Söhne schwebte: »Wieviel Zeit, wieviel Zeit werden Gott und die Menschen meinen Kindern auf der Erde geben?«
Sie sah den schlafenden Kindern zu, bis die Sonne aufging und die Lichtstrahlen ihre Köpfe erreichten. Sie selbst konnte die Sonne mit der Hand berühren und fragte sich, wie viele Sonnen sie und ihre Kinder ertragen würden. Für jeden Lichtfleck gab es eine Schattenlinie.
Dann wich Laura Dïaz von den Betten ihrer Söhne zurück, erhob sich, innerlich von einer trüben Flut aufgewühlt, und sagte sich (beinahe sagte sie es ihnen), damit sie ihre Mutter verstünden und nicht verdammten, sie zuerst bemitleideten und danach vergäßen: Damit ich eine verhaßte und durch den Haß meiner Kinder befreite Mutter werden kann, damit ich verhaßt, aber auch unvergeßlich bin, muß ich tätig sein, leidenschaftlich, aktiv, nur weiß ich noch nicht, wie, ich kann nicht wieder mit dem anfangen, was ich schon getan habe, ich will eine wahrhaftige Offenbarung, eine Offenbarung, die eine Erhöhung und kein Verzicht ist. Wie leicht wäre das Leben ohne Kinder und ohne Mann! Noch einmal? Diesmal im Ernst? Warum nicht? Erschöpft sich mit dem ersten Mal die Freiheit, versperrt uns ein früherer Mißerfolg die Tore eines möglichen Glücks außerhalb der Wände des eigenen Heims? Habe ich mein Schicksal ausgeschöpft? Santiago, Danton, verlaßt mich nicht. Erlaubt, daß ich euch überallhin folge, was immer auch geschieht. Ich will nicht angebetet werden. Ich will erwartet werden. Helft mir.
XII. Parque de la Lama: 1938
1938 unterwarfen sich die europäischen Demokratien in München dem Diktat Hitlers, die Nazis besetzten Österreich, ein Jahr später die Tschechoslowakei, die spanische Republik stand im Kampf und zog sich an allen Fronten zurück. Walt Disney hatte 1937 »Schneewittchen und die sieben Zwerge« herausgebracht, Sergei Eisenstein 1938 »Alexander Newski« und Leni Riefenstahl »Olympia«. In Deutschland steckten die SS-Horden während der »Kristallnacht« Synagogen, jüdische Geschäfte, Wohnungen und Schulen in Brand, der nordamerikanische Kongreß gründete den »Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe«, Antonin Artaud schlug ein »Theater der Grausamkeit« vor, Orson Welles überzeugte alle, daß die Marsianer in New Jersey eingedrungen waren, in Mexiko nationalisierte Lâzaro Cärdenas das Erdöl, und zwei rivalisierende Telefongesellschaften, die schwedische Ericsson und die einheimische Mexicana, boten getrennt voneinander ihre Dienste an, was –leider – dazu führte, daß der Ericsson-Kunde keine Verbindung zum Mexicana-Kunden bekommen konnte, und umgekehrt. Dieses Durcheinander zwang den Besitzer eines Ericsson-Apparats, einen Nachbarn oder Freund, ein Büro oder einen Laden aufzusuchen, um mit jemandem zu sprechen, der einen Mexicana-Anschluß hatte, und genauso umgekehrt.
»In Mexiko sind sogar die Telefone barock«, sagte Orlando Ximénez.
Die Ausdehnung der modernen Großstädte erschwerte die Liebesbeziehungen, niemand wollte eine Stunde im Bus oder Auto fahren, um eine kurze Erfüllung zu genießen. Mit dem Telefon ließen sich in der Mitte liegende Treffpunkte vereinbaren. In Paris diente der Rohrpostbrief, der petit bleu, als Verbindung zwischen den Paaren; die kleinen blauen Kuverts konnten alle Arten von Liebesversprechen enthalten, die Verlobten empfingen sie mit größerer Herzbeklemmung als ein Telegramm. Doch wenn Verliebte in Mexiko, im Jahr der Verstaatlichung des Erdöls, keine Nachbarn waren und der eine Ericsson und der andere Mexicana hatte, waren sie dazu verurteilt, von ihrem Zuhause unabhängige, komplizierte oder, wie Orlando gesagt hätte, barocke Verbindungsnetze zu ersinnen.
Trotzdem, die erste Verbindung zwischen ihnen, die erste persönliche Botschaft, konnte nach wie vor direkter nicht sein. Ihre Blicke
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